Nicht so traurig, bitte

Ich habe einen Mandanten besucht, der in Untersuchungshaft sitzt. Dem Mann wird eine sehr schwere Straftat vorgeworfen. Ihm drohen etliche Jahre Haft. Ich persönlich meine aber nicht, dass an den Vorwürfen viel dran ist. Aber die Staatsanwaltschaft sieht das ganz anders. So wird es ein hartes Stück Arbeit werden, die Anklage zu entkräften.

Der Mandant hätte also allen Grund, den Kopf hängen zu lassen. Stattdessen betrat er mit strahlender Miene den Besuchsraum, in dem ich schon wartete. Seine ersten Worte: „Ich habe Sie schon durch die Scheibe gesehen. Gucken Sie doch nicht so traurig, dafür gibt’s bei dem schönen Wetter doch überhaupt keinen Grund.“

Grundsätzlich hätte das ja eher anders rum laufen sollen. Ich werde künftig etwas besser aufpassen, dass ich mein Lächeln rechtzeitig anknipse…

2 Pizza

Für die Polizei und die Staatsanwaltschaft war der Fall klar. Mein Mandant soll ein Drogendealer sein, und zwar gar nicht von einem kleinen Kaliber. Das alles soll sich aus den WhatsApp-Chats meines Mandanten mit einem anderen Mann ergeben, der wegen Drogenhandels observiert wurde. Angeblich hatte mein Mandant bei dem Betreffenden „2 Pizza“ gekauft…

… wobei „1 Pizza“ laut den Erkenntnissen der Polizei 200 Gramm Marihuana bedeutet. Das sei der einschlägige Code, den die Beamten entschlüsselt haben wollten. Die Sache schien so klar, dass man es gar nicht für nötig hielt, den (mittlerweile inhaftierten) vermeintlichen Geschäftspartner meines Mandanten zu befragen. So ein WhatsApp-Verlauf ist ja auch ein quasi amtliches Ding, das trägt locker einen Verbrechensvorwurf mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr Gefängnis. Demzufolge erfolgte die Anklage auch nicht vor dem Strafrichter, sondern gleich beim Schöffengericht.

In der Hauptverhandlung erlaubte ich mir für meinen Mandanten den Hinweis, dass die Pizza-Connection tatsächlich auf einem wenig soliden Fundament ruht. Sowohl die Polizei als auch der Staatsanwalt hatten bei ihrer Begeisterung für den großen Fang (weit über 50 Beschuldigte) übersehen, dass mein Mandant mit dem Verkäufer zwar mal über Marihuana verhandelt hatte. Von „Pizza“, wie wohl bei anderen Beschuldigten, stand da aber nichts. Vielmehr war in den Chats stets nur von „2 Stück“ die Rede. Der Begriff Pizza taucht schlicht und einfach nirgends auf.

Tja, und so bestätigte dann der im Gericht nun erstmals zu meinem Mandanten befragte Dealer zwar, dass mein Mandant einmal was bei ihm gekauft hat. Aber halt nur zwei Joints, das Stück für zehn Euro. Das wiederum entsprach eigentlich dem Befund der Hausdurchsuchung bei meinem Mandanten. Auf dessen Handy war nämlich überhaupt nichts gefunden worden, das auf eine Verkaufstätigkeit hindeutet. In der Wohnung fanden sich auch nur ein paar Krümel Marihuana auf dem Nachttisch. Also Eigengebrauch.

Binnen zehn Minuten waren wir weg vom Verbrechensvorwurf – und bei einer Einstellung des Verfahrens. Hierfür zahlt mein Mandant gerne eine ganz, ganz kleine Geldauflage, damit der Albtraum nun wirklich ein schnelles Ende hat. Ich für meinen Teil bin noch nicht so ganz darüber hinweg, wie schlampig in diesem Verfahren ermittelt und Anklage erhoben worden ist.

Eine Nacht mehr

Untersuchungshaft ist so ziemlich das Unerfreulichste, was einem im Umgang mit der Justiz passieren kann. Sie kommt meist plötzlich, reißt dich aus deinem Leben und lähmt dich zu so gut wie 100 %.

Dementsprechend erlebe ich als Verteidiger eigentlich nur Leute, die ganz dringend raus wollen. Und zwar sofort, besser noch gestern. Aber es gibt auch halt Ausnahmen – und die ist mir neulich in Norddeutschland begegnet.

Der Verhandlungstag war eigentlich recht erfolgreich verlaufen. Für den Mandanten gab es eine moderate Bewährungsstrafe. Und das Gericht hob auch sogleich den Haftbefehl auf. Der Haftbefehl hatte dem Mandanten einen mehrmonatigen Freiheitsentzug eingebracht.

Der Mandant hatte allerdings eigene Vorstellungen. Er wollte heute noch mal definitiv zurück in die Justizvollzugsanstalt und auf jeden Fall dort schlafen. Äh, bitte? Untersuchungshaft ohne Haftbefehl? Der wie immer bestens vorbereitete Mandant hatte auch gleich den richtigen Paragrafen parat: § 10 des Bremischen Untersuchungshaftgesetzes. Dieser sieht vor, dass dem Gefangenen „aus fürsorgerischen Gründen“ zugestanden werden kann, bis zum übernächsten Tag in der Haftanstalt zu bleiben. Das dürfte juristisch so zu verstehen sein, dass dem Gefangenen dieser Wunsch nicht abgeschlagen werden kann, sofern er ihn äußert.

Was natürlich so gut wie nie vorkommt. Die Richterin musste erst mal im Gesetz blättern, der Staatsanwalt musste erst mal blättern, und die anwesenden Anwälte ehrlich gesagt natürlich auch. Der Mandant ließ sich dann später tatsächlich noch mal von den Wachtmeistern abführen und abends für eine weitere Nacht in seine Zelle sperren. All das, nachdem er einige Formulare eilig herbeigeschaffte Formulare unterschrieben hatte, wonach dies alles sein freier Wille ist. Am nächsten Vormittag ging er dann aber nach Hause, obwohl er eigentlich noch eine Nacht hätte bleiben können.

Auch wenn ich noch paar Jahre bis zur Rente habe, ist nach meinem Gefühl die Wahrscheinlichkeit noch mal mit dem Paragrafen zu tun zu bekommen, doch sehr, sehr gering.

„Antiviraler“ Hustensaft

Ein Hustensaft darf nicht als „antiviral“ beworben werden, wenn die Wirkung bislang nur im Labor nachgewiesen wurde. Vielmehr ist es erforderlich, dass die positiven Wirkungen auch am Menschen belegt wurden, so das Landgericht Frankfurt am Main in einer aktuellen Entscheidung.

Der Hersteller hatte in seiner Werbung auf die „antivirale“ Wirkung hingewiesen und auch dazu geschrieben, der Hustensaft zeige diese Eigenschaften „im Labor“. In-vitro-Untersuchungen reichen aber nach Meinung des Gerichts nicht aus. Vielmehr müsse der Hersteller die Wirksamkeit zunächst am Menschen positiv belegen, wenn er mit den positiven Eigenschaften werben will. Positive klinische Tests konnte der Hersteller aber nicht vorlegen (Aktenzeichen 3-10 O 22/18).

Empfehlung der Polizei rechtfertigt kein Stadionverbot

Der Deutsche Fußballbund (DFB) darf Fans nicht einfach deswegen ein Stadionverbot erteilen, weil die Polizei dies so empfohlen hat. Vielmehr bedarf es einer tatsächlichen Grundlage, die der DFB auch selbst feststellen muss, wie das Amtsgericht Frankfurt am Main entschieden hat.

Geklagt hatte ein Fußballfan, der bisher nie negativ aufgefallen war. Sein Auto wurde auf einem Parkplatz kontrolliert, wo sich auch andere Fußballfans trafen. Insgesamt wurden 177 Personen kontrolliert, in einigen Autos fanden sich Vermummungs- und Schlaggegenstände. Im Auto des Klägers war nichts. Er erhielt zwar einen Platzverweis und wurde wie die anderen eine Nacht festgehalten, aber später wurde nicht weiter gegen ihn ermittelt.

Zwar steht es dem DFB laut Urteil grundsätzlich frei, über den Zutritt Dritter zu Stadien zu entscheiden. Der Ausschluss eines Einzelnen dürfe jedoch nicht ohne sachlichen Grund und nicht willkürlich erfolgen. Allein der Platzverweis und die Ingewahrsamnahme reichen aber nicht aus, um auf eine mögliche Gewaltbereitschaft des Klägers zu schließen. Zwar bedürfe es für eine Gefahrenprognose nicht unbedingt des Nachweises einer Straftat. Der DFB hätte aber eine „eigene Tatsachengrundlage“ ermitteln müssen. Auf die Empfehlung der Polizei alleine könne ein Stadionverbot nicht gestützt werden (Aktenzeichen 30 C 3466/17 (71)).

Der Kommissar hat das Geheule satt

Vor einigen Tagen habe ich einen Mandanten verteidigt, dem Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vorgeworfen wurde. Dass er sich verteidigen musste, ist deshalb schon interessant, weil es am Ende mein Mandant war, der zwei gebrochene Rippen und eine gebrochene Nase hatte, während es den beteiligten Polizisten noch super ging. Verletzungen, die sich mein Mandant angeblich bei einer Widerstandshandlung zugezogen hatte, nachdem ihn mehrere Polizisten zu Boden gebracht hatten.

Ich will gar nicht in die Tiefen der Geschichte gehen. Vielleicht genügt es als Zusammenfassung, dass die Geschichte, welche die Beamten vor Gericht erzählten, schon etwas merkwürdig war. Ich hatte dem Mandanten geraten, dass er offen zu seinem Fehler steht. Nämlich dem Versuch, um die Ausweiskontrolle rumzukommen. Und auch dazu, dass er die Beamten auf jeden Fall verbal angegangen ist und sich auch dagegen gesperrt hat, als ihm Handfesseln angelegt werden sollten.

Die Hoffnung war, um eine Vorstrafe rumzukommen. Ich hatte keine Ahnung, ob das klappt – bis der Hauptbelastungszeuge sich in den Zeugenstand setzte. Auf das, was der Herr Kommissar sagte, will ich gar nicht eingehen. Sondern nur darauf, wie er auf die Entschuldigung reagierte, die mein Mandant am Ende der Vernehmung auf meine Empfehlung vorbrachte.

Der Beamte lief tiefrot an und tillte regelrecht aus. Mein Mandant solle ihm bloß nicht so kommen. So was könne er schon gar nicht mehr hören. Er habe dieses Geheule satt, das er von Angeklagten immer im Gerichtssaal zu hören bekomme. Die Entschuldigung nehme er auf keinen Fall an, mit so was könne man ihn grundsätzlich in Ruhe lassen.

Auf den Richter und den Staatsanwalt wirkte dieser Ausbruch ebenso wie auf mich. Nämlich als Beleg, dass es in der Geschichte sicher nicht nur schwarz und weiß gab. Zwei Minuten später war das Verfahren eingestellt, gegen Zahlung eines dreistelligen Betrages für Amnesty International.

Der Beamte saß hinten im Saal und verstand die Welt nicht mehr. Es fand sich aber niemand, der ihm erklärte, was sich da jetzt zugetragen hat.

Keine Verzugspauschale für Arbeitnehmer

Das Gesetz hört sich mitunter super an. Zum Beispiel § 288 BGB. Nach dieser Vorschrift ist eine Pauschale von 40 Euro fällig, wenn jemand sich mit einer fälligen Zahlung zu viel Zeit lässt. Die gesetzlichen Zinsen kommen obendrauf.

Interessant klingt die Regelung natürlich auch für Arbeitnehmer, deren Chef notorisch unpünktlich zahlt. 40 Euro sind ja schon mal eine Ansage. Womöglich auch für eine Zeitarbeitsfirma, mit der ich es in einem Fall derzeit zu tun habe.

Ich unterstütze eine Jurastudentin aus der Familie. Diese hat während der Semesterferien bei einer Zeitarbeitsfirma angeheuert. Abgerechnet wurde ihr Lohn schon vor knapp zwei Wochen. Nur – es kommt kein Geld. Da fand ich es doch eine gute Idee, in meinem Mahnschreiben vom gestrigen Tage auf die Verzugspauschale in § 288 BGB hinzuweisen und diese auch geltend zu machen.

Wir reden über den ersten Arbeitsrechtsfall, den ich seit zehn Jahren bearbeite. Da ist es fast schon ein Treppenwitz, wenn das Bundesarbeitsgericht am gleichen Tag in einem Grundsatzurteil alle Arbeitnehmer von der Verzugspauschale ausnimmt. Einem Arbeitnehmer steht die Pauschale nach Auffassung der Richter nicht zu, obwohl sich aus dem Gesetz nach meiner Meinung (und zum Beispiel der des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf) doch eher genau das Gegenteil ergibt. Einzelheiten zum BAG-Urteil stehen in diesem Artikel der LTO.

Die 40-Euro-Drohung ist jetzt futsch. Bleiben also noch die gesetzlichen Verzugszinsen. Diese sind wegen des negativen Basiszinssatzes ja kaum der Rede Wert (aktuell sprechen wir in dem Fall über Zinsen in Höhe von 2,10 Euro).

Auch ansonsten bleiben anscheinend wenig Möglichkeiten, den Arbeitgeber zur Zahlung zu bewegen. So ist es im Arbeitsgerichtsverfahren so, dass es keine Kostenerstattung in der 1. Instanz gibt. Wenn ich die Studentin zu einem Arbeitsrechtler geschickt hätte, würde sie in jedem Fall auf dessen Anwaltskosten sitzenbleiben – selbst wenn sie den Prozess gewinnt. (Was natürlich zum Beispiel für alle Kollegen der Studentin schlecht ist, die ebenfalls noch kein Geld haben, aber auch keinen Anwalt kennen, der ihnen pro bono hilft).

Halten wir fest: Es gibt wenige Möglichkeiten, einen Arbeitgeber, der einfach nicht zahlt, zügig an die juristische Kandare zu nehmen. Seit gestern gibt es – danke, Bundesarbeitsgericht – noch eine Möglichkeit weniger. Bleibt also nur eine zügige Klage vor dem Arbeitsgericht; die Uhr mit dem Insolvenzrisiko tickt ja ansonsten gnadenlos.

Vielleicht hilft ja noch meine Ankündigung einer Strafanzeige hinsichtlich der abgerechneten Sozialabgaben, sofern diese nicht fristgerecht abgeführt wurden. Mal schauen. Wenigstens habe ich es zum Arbeitsgericht nicht sonderlich weit. Ich habe gerade mal vorsorglich gegoogelt, ob das Gericht noch an der letzten mir bekannten Adresse ist…

Nachtrag 27.09.: Juchhu, die Gegenseite hat alles bezahlt, auch die Verzugspauschale. Manchmal sind wir Anwälte halt auch für was gut.

Kein neues Recht für alte Fälle

Gastbeitrag von Dr. André Bohn, Assessor und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität-Bochum

Die 79 Kommentare zu dem letzten Post „Was, wenn Ulvi K. doch ein Mörder ist?“ zeigen, dass das Thema Interesse weckt und zu Diskussionen anregt. Daher noch mal ein kleiner Überblick zur Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Angeklagten bei Vorliegen neuer Beweise:

Art. 103 Abs. 3 GG normiert den Grundsatz „ne bis in idem“. Nach seinem Wortlaut verbietet er nur jede erneute Bestrafung, aber es besteht Einigkeit, dass der Schutz sich über den Wortlaut hinaus auch auf erneute Verfolgungen bezieht. Ulvi K. darf also nicht noch einmal der Prozess gemacht werden.

In § 362 StPO sind momentan als Ausnahme zu Art. 103 Abs. 3 GG vier Wiederaufnahmegründe normiert. Die Nummern 1-3 betreffen Fehler im Ausgangsverfahren, Nr. 4 normiert das Geständnis des Freigesprochenen als Wiederaufnahmegrund.
In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Gesetzesinitiativen, um in § 362 StPO einen Wiederaufnahmegrund wegen neuer Beweise einzuführen – den es bislang nicht gibt.

In der Regel werden Einzelfälle, deren juristisches Ergebnis als unhaltbar angesehen wird, zur Grundlage solcher Initiativen. Der letzte die Gemüter erhitzende Fall, der zu einer solchen Initiative führte, betraf ein damals 17-jähriges Mädchen, das vergewaltigt und ermordet worden war. Die Polizei ermittelte einen Tatverdächtigen, der zunächst zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Dieses Urteil hob der Bundesgerichtshof auf.

In dem darauf folgenden zweiten Prozess erging ein Freispruch. Jahre später konnte dann aufgrund neuer Untersuchungsmethoden DNA des Freigesprochenen an der Binde des Opfers gefunden werden. Eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens war aber nicht möglich. Der Vater der Getöteten initiierte eine Online-Petition zur Erweiterung des § 362 StPO, die über 105.000 Unterschriften erreichte.

Zu einer Gesetzesänderung kam es zwar nicht, aber auch im momentan geltenden Koalitionsvertrag findet sich der Satz: „Wir erweitern die Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten der oder des freigesprochenen Angeklagten in Bezug auf die nicht verjährbaren Straftaten.“

Eine solche Änderung wäre juristisch aber alles andere als unproblematisch, um nicht zu sagen verfassungswidrig:
Art. 103 Abs. 3 GG stellt ein schrankenlos gewährleistetes (Justiz-)Grundrecht dar. Es kann daher nur durch verfassungsimmanente Schranken, also andere Güter von Verfassungsrang, beschränkt werden. Die materielle Gerechtigkeit, der die Wiederaufnahme des Strafverfahrens dient, ist ein solches Gut.

Ausgehend von dem Prinzip der praktischen Konkordanz muss § 362 StPO aber die sich gegenüberstehenden Rechtsgüter in einen möglichst schonenden Ausgleich bringen, sodass die beiden Rechtsgüter – jeweils beschränkt durch das andere – zu möglichst optimaler Wirksamkeit gelangen. Bei Einführung eines Wideraufnahmegrundes wegen neuer Beweise würde die in Art. 103 Abs. 3 GG verbürgte Rechtssicherheit des Freigesprochenen jedoch in solchen Fällen gar keine Wirksamkeit mehr entfalten.

Im Übrigen könnte eine entsprechende Änderung aufgrund des Rückwirkungsverbots nicht auf Altfälle angewendet werden. Die in solchen Fällen oft eingeforderte Gerechtigkeit kann daher in Bezug auf die Altfälle ohnehin nicht erreicht werden.

Schockbilder vor einer Grundschule

Ein Abtreibungsgegner hatte sein Auto mit Fotos abgetriebener und zerstückelter Föten beklebt. Es handelte sich um Bilder von seiner Internetseite, welche die Bundesaufsicht für jugendgefährdende Medien bereits als jugendgefährdend eingestuft hat. Außerdem nutzte der Mann das Fahrzeug als Fläche für Slogans wie „damals Holocaust – heute Babycaust“. Als er sein Auto während der Unterrichtszeiten direkt vor einer Grundschule abstellte, ließ die Stadtpolizei Darmstadt das Auto abschleppen. Der Streit, wer die Kosten zu tragen hat, führte nun zu einem Rechtsstreit.

Das Verwaltungsgericht Darmstadt billigt dem Mann zwar zu, auf seinem Auto „Werbung“ auch für politische Ansichten zu machen. Allerdings sei die Grenze jedenfalls dort überschritten, wo das Wohl der Grundschulkinder unmittelbar gefährdet sei. Die Kinder seien konkret in Gefahr gewesen, ohne jede pädagogische oder erzieherisch Unterstützung mit den brutalen Bildern und den Slogans konfrontiert zu werden.

Darin sieht das Gericht eine Belästigung der Allgemeinheit (§ 118 OWiG), die mit einem Bußgeld geahndet werden kann. Dementsprechend sei die Polizei auch berechtigt gewesen, die damit verbundene Gefahr zu beseitigen, indem sie das Auto abschleppte. Ob der Mann tatsächlich auf Kinder einwirken wollte oder nur zufällig vor der Schule parkte, spielt laut dem Gericht keine Rolle (Aktenzeichen 3 K 1937/17.DA).

Mann schießt sich Wattestäbchen in den Kopf

Mit einem ungewöhnlichen Fall aus dem Waffenrecht musste sich das Amtsgericht München beschäftigen. Es ging um einen Mann, der mit einem illegalen Revolver Russisch Roulette spielte. Die Patrone hatte er allerdings durch ein halbiertes Wattestäbchen ersetzt.

Das wiederum war erst mal gar nicht dumm, denn ansonsten wäre der Mann jetzt wahrscheinlich tot. Immerhin hatte er die Waffe tatsächlich ausgelöst in der Meinung, dass die Kammer mit dem Wattestäbchen nicht „scharf“ ist. Tatsächlich wurde das Stäbchen aber in Bewegung gesetzt. Es drang durch die Schädeldecke zwei Millimeter ins Gehirn des Mannes ein. (Ich kann mir das wirklich schlecht vorstellen, aber so steht es tatsächlich in der Pressemitteilung des Amtsgerichts München.)

Der Mann bekam eine Titanplatte eingesetzt und wurde auf eigenen Wunsch nach acht Tagen aus dem Krankenhaus entlassen. Er will noch immer an Schwindelattacken leiden und hofft nun darauf, dass ihm eine Schwerbehinderung anerkannt wird. Auf die Frage des Gerichts, wie ein erwachsener Mensch auf so eine Idee kommen könne, wies er darauf hin, dass er schon seit Jugendtagen Marihuana und später auch härtere Drogen konsumiere.

Den Revolver (Kaliber 4 mm) hatte der Mann nach eigenen Angaben in einer Mülltonne gefunden. Der Richter verurteilte den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes einer Schusswaffe und unerlaubtem Führen einer Schusswaffe zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen. Dass es bei einer Geldstrafe blieb, begründete das Gericht mit den Folgen der Tat, die den Angeklagten schon schwer getroffen hätten (Aktenzeichen 1116 Ds 117 Js 217523/17).

Kompliment

„Ein Arschloch bleibt ein Arschloch“, schallte es heute sehr laut durchs Amtsgericht Ratingen.

Der Ausspruch fiel aus dem Mund der Hauptbelastungszeugin und vermeintlich Geschädigten. Kurz zuvor war mein Mandant freigesprochen worden.

Demgemäß nehme ich es einfach mal als Kompliment.

Was, wenn Ulvi K. doch ein Mörder ist?

Im Mordfall Peggy K. gibt es nun zwar einen Verdächtigen, gegen den wegen Mordes ermittelt wird. Trotzdem bleibt der Mann in Freiheit, weil die Staatsanwaltschaft keinen dringenden Tatverdacht sieht.

Der dringende Tatverdacht ist aber Voraussetzung für einen Haftbefehl. Angesichts der Umstände spricht also vieles dafür, dass die Ermittler dem Mann derzeit eher glauben (müssen), dass er Peggy nicht getötet, sondern dass er lediglich die Leiche des Kindes vergraben hat. Strafbar wäre auch dies gewesen. Nur sind 17 Jahre nach Peggys Verschwinden so gut wie alle in Fragen kommenden Delikte (zum Beispiel Störung der Totenruhe) verjährt. Verfolgt werden könnten im hier interessierenden juristischen Spektrum noch Totschlag und einige Sexualdelikte, zum Beispiel die Vergewaltigung mit Todesfolge (§ 178 StGB), die alle frühestens 20 Jahre nach einer Tat verjähren. Außerdem natürlich Mord, bei dem die Verjährung ja abgeschafft wurde. Gleiches gilt für eine mögliche Beihilfe, aber von einer gemeinschaftlichen Tat scheinen die Ermittler ja eher nicht auszugehen.

Laut den Behörde benennt der jetzt ermittelte Verdächtige sogar die Person, von der er Peggys Körper übernommen haben will. Preisgegeben wird der Name dieser Person nicht. Es ist auch keine Rede davon, dass der Betreffende ernsthaft im Fokus von Ermittlungen stünde. Entweder bindet der jetzt Ermittelte den Behörden einen Bären auf. Oder, das scheint mir viel naheliegender, diese Person ist Ulvi K, der schon einmal wegen des Mordes an Peggy verurteilt wurde.

Nachdem Ulvi K. aber sein – sicherlich mehr als fragwürdiges – Geständnis widerrufen hatte, wurde er in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Rechtskräftig. Was aber ist, wenn sich jetzt herausstellt, dass Ulvi K. doch der Täter ist?

Trifft das zu, wird er trotzdem nicht mehr bestraft werden können. Das liegt am Grundsatz, wonach niemand zwei Mal wegen derselben Straftat vor Gericht gestellt werden kann. Steht so im Grundgesetz, Art. 103 GG. Von diesem Grundsatz gibt es nur eng begrenzte Ausnahmen, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Verurteilten überhaupt zulässig machen.

Am besten erschließt sich die Problematik (oder der rechtsstaatliche Segen), wenn man zunächst einen Blick auf die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten wirft. Hier lässt § 359 StPO eine Wiederaufnahme zu, „wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die … die Freisprechung des Angeklagten … zu begründen geeignet sind“.

Genau dieser Wiederaufnahmegrund fehlt aber in § 362 StPO, welcher die Wiederaufnahme zuungunsten des meist freigesprochenen Angeklagten regelt. Kurz gesagt: Neue Beweismittel – etwa ein bisher nicht bekannter Zeuge oder auch ein Mittäter, der erst spät sein Schweigen bricht – können nicht zu einer Neuauflage des Prozesses führen. Sollte das aus rechtsstaatlicher Sicht seinerzeit sicherlich falsche Urteil gegen Ulvi K. dummerweise „richtig“ und die spätere Korrektur vom Ergebnis her gesehen „falsch“ gewesen sein, gäbe es jetzt keinerlei Möglichkeit mehr, Ulvi K. als Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Nur Ulvi K. selbst könnte daran noch etwas ändert – wenn er die Tat gesteht und das auch noch glaubwürdig (§ 362 Nr. 4 StPO). Ob ein Gericht in dieser Konstellation allerdings einem erneuten Geständnis K.s überhaupt glauben und eine Verurteilung hierauf stützen könnte, wäre dann die große Frage.

Facebook ist nicht gleich Facebook

Facebook ist nicht gleich Facebook. Jedenfalls können die Rechte Betroffener sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem welches Angebot von Facebook sie nutzen. Für den Facebook-Messenger entschied das Oberlandesgericht Frankfurt jetzt, dass die dortige Kommunikation nicht zu den sozialen Netzwerken im Sinne des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes gehört.

Geklagt hatte eine Frau, über die via Facebook Messenger zwischen einzelnen Personen übel geredet wurde. Sie wollte von Facebook wissen, wer die Informationen verbreitet. Doch einen Anspruch auf Auskunft hat sie nach Meinung der Frankfurter Richter gegenüber Facebook nicht. Der besondere Auskunftsanspruch nach § 14 TMG gelte nur für soziale Netzwerke, nicht aber für private Kommunikation.

Allein die Möglichkeit, über den Messenger private Nachrichten an einen größeren Empfängerkreis zu senden, führe noch nicht zu der Annahme eines sozialen Netzwerks. Ein soziales Netzwerk müsse vielmehr dazu bestimmt sein, beliebige Inhalte mit anderen Nutzern zu teilen oder zugänglich zu machen. Beim Facebook Messenger steht nach Auffassung des Gerichts aber die private Kommunikation im Vordergrund.

Das Gericht weist darauf hin, dass man die Rechtslage als unbefriedigend empfinden könne. Allerdings müsse hier der Gesetzgeber tätig werden (Aktenzeichen 16 W 27/18).

Handschriftliche Verfügung

Die Situation kennt jeder Jurist, der ab und zu Gerichtsakten lesen muss. Oftmals finden sich darin handschriftliche Notizen von Staatsanwälten und Richtern, auch näher bekannt als „Verfügung“ oder „Vermerk“. Wie das halt so ist, zeichnen sich die Werke insbesondere dadurch aus, dass sie oft nur schlecht lesbar sind.

Allerdings ist es fast immer mit ein wenig Fantasie und Intuition möglich, den Inhalt zu erraten. Nun bin ich aber in einem Fall endgültig gescheitert. In der Notiz, die vier Zeilen lang ist, konnte ich nur „Jochen/Maria“ oder „Joachim/Maria“ entziffern und etwas, was möglicherweise „DOS“ oder „DUS“ heißen könnte. Außerdem ein „monachm. 1743“.

Nichts davon ließ sich irgendwie mit den bisherigen 243 Seiten Text vereinbaren, welche die Gerichtsakte mittlerweile umfasste. Da ich auf der anderen Seite nicht riskieren wollte, etwas zu verpassen, das für die Verteidigung wichtig sein könnte, rief ich die zuständige Richterin an.

Die hatte dann eine ganz plausible Erklärung. Die Notiz besagte, dass ihre Schwiegereltern (Joachim und Maria) am Montagnachmittag in Düsseldorf mit dem Flugzeug ankommen, und zwar um 17.43 Uhr. Dann wollen sie abgeholt werden.

„Schon komisch“, sagte die Richterin. „Ich weiß noch genau, dass ich den Zettel mit den Flugzeiten später gesucht, aber partout nicht mehr gefunden habe.“ Na ja, jetzt ist immerhin klar, wo sie die Notiz gemacht hat.

Kleingedrucktes hilft Airlines nicht

Flugverspätung? Flugausfall? In solchen Fällen steht Reisenden eine pauschale Entschädigung zu, die oft sogar deutlich über dem Flugpreis liegt. Auf die Geltendmachung dieser Ansprüche haben sich mehrere Internetportale spezialisiert. Der Kunde muss sich um nichts kümmern, dafür erhalten die Anbieter im Erfolgsfall eine Provision.

Einigen Airlines scheint der Service nicht zu gefallen. Sie wehren sich mit einem Abtretungsverbot, das sie in ihre Buchungsbedingungen reinschreiben. Wäre das Abretungsverbot wirksam, könnte das Portal das Geld nicht für den Kunden bei der Fluggesellschaft eintreiben.

Allerdings scheinen die Gerichte hier eher auf der Seite der Fluggäste zu sein. Aktuell gibt es jetzt einen Hinweisbeschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth, in dem ein Abtretungsverbot im Kleingedruckten als unzulässig angesehen wird. Die Richter bestätigten damit eine Entscheidung der Vorinstanz. Die Airline nahm daraufhin ihre Berufung zurück.

Über weitere Einzelheiten berichtet die Legal Tribune Online. Dort werden auch noch einige ältere Entscheidungen genannt, die ebenfalls zu Gunsten der Reisenden ausfielen.

Als Fluggast sollte man sich also nicht abschrecken lassen, wenn man ein Fluggastrechte-Portal eingeschaltet hat.