Sagt mir nichts

Es kommt nicht oft vor, dass mir der Fall rein gar nichts sagt, wenn ich die Akte mal wieder auf den Tisch bekomme. Sofern das aber passiert, kreuze ich im Kopf auf dem virtuellen To-do-Zettel schon automatisch das Kästchen „Verjährung prüfen“ an.

So passierte es mit einer Verkehrsstrafsache, die mir erst mal gar nichts sagte. Kein Wunder. Die Tat soll sich im Jahr 2012 zugetragen haben. Nach endlosen Ermittlungen, ich unterstelle den Behörden mal hektische Aktivität, erging drei Jahre später ein Strafbefehl. Seitdem war wieder Ruhe.

Am 12. Oktober wäre ein wichtiger Tag gewesen, deshalb bekam ich die Akte auch wieder vorgelegt. An dem Tag würde der Vorwurf verjähren. Ich war guter Dinge, dass die Akte bei Gericht irgendwie „außer Kontrolle“ geraten war, wie man so schön sagt.

Doch auch wenn die zuständige Richterin mit ihren Fällen hoffnungslos „abgesoffen“ zu sein scheint, so hat sie – oder ihre Geschäftsstelle – aber zumindest ein funktionierendes Wiedervorlagesystem. Am 02.10. hat sie einen Hauptverhandlungstermin anberaumt. Auf März 2019.

Ärgerlich aus Sicht des Angeklagten ist weniger der Termin, sondern seine unmittelbare rechtliche Wirkung. Die Anberaumung eines Hauptverhandlungstermins unterbricht die Verjährung, so dass die Vejährung ab diesem Zeitpunkt wieder neu läuft.

Knapp war das auf jeden Fall. Aber man kann halt nicht immer Glück haben.

Blick in die (juristische) Zukunft

Von André Bohn, Assessor und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum

Der 78. Deutsche Juristentag (DJT) hat sich im Herbst auch mit vielen strafrechtlichen Themen beschäftigt. Die Beschlüsse haben natürlich keine Bindungswirkung, sind aber regelmäßig wichtige Empfehlungen für die Politik und zeigen oft, wo rechtspolitisch der Hase hinläuft.

Die wichtigsten Punkte des DJT im Bereich Strafrecht sollen im Folgenden kurz dargestellt werden.

Sentencing-Guidelines

Sentencing-Guidelines sind Strafzumessungsrichtlinien, mit denen Richter*innen beispielsweise an einer Tabelle die Strafe für eine bestimmte Tat ablesen können. Sie dienen dazu, eine möglichst einheitliche Bestrafung sicherzustellen.

Sentencing-Guidelines werden in der Regel von einer Expertenkommission erarbeitet.
Die Einführung sogenannter Sentencing-Guidelines lehnt der DJT ab, schlägt aber stattdessen die Einführung einer Datenbank vor, in der Entscheidungen hinterlegt werden, sodass sich die verschiedenen Gerichte über die „Tarife“ bei anderen Gerichten informieren können.

Ob Richter*innen davon wirklich Gebrauch machen würden, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin gibt es ja bereits Datenbanken wie juris, beck-online oder auch das kostenlose Angebot dejure.org. Die Annahme, dass Gerichte vor jeder Verurteilung kurz checken, ob die ausgeurteilte Strafe mit den in vergleichbaren Fällen verhängten Strafen anderer Gerichte korrespondiert, dürfte insbesondere vor dem Hintergrund der hohen Arbeitsbelastung eher unwahrscheinlich sein.

§ 46 StGB

In § 46 Abs. 1 StGB soll anstelle der „Schuld“ des Täters das „vom Täter verschuldete Unrecht“ nunmehr Grundlage der Zumessung der Strafe sein. Um mal eine abgedroschene Phrase zu verwenden: Alter Wein in neuen Schläuchen. Ich glaube nicht, dass damit eine Änderung der Strafzumessungspraxis verbunden wäre.

Die in § 46 Abs. 2 StGB aufgeführte Gesinnung, die aus der Tat spricht, soll als zu berücksichtigender Umstand wegfallen. Da die Begriffe der Gesinnung und der Beweggründe und Ziele des Täters, wie sie ebenfalls in § 46 Abs. 2 StGB normiert sind, ineinander übergehen, dürfte auch diese Änderung nicht allzu viel Auswirkungen auf die Praxis haben.

Rückfall- und Verlaufsstatistik

Der DJT spricht sich für die Einführung einer Rückfall- und Verlaufsstatistik aus, um die Zusammenhänge zwischen Strafe und Rückfallquote zu beleuchten. Dies ist meines Erachtens uneingeschränkt zu begrüßen, zumal die gängigen Straftheorien heute nahezu vollständig widerlegt oder zumindest einiger empirischer Kritik ausgesetzt sind, Gerichte aber trotzdem noch damit argumentieren, um die verhängten Strafen zu rechtfertigen. Voraussetzung ist dann natürlich, dass die Richter*innen sich diese Statistiken auch angucken und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Dabei kann kriminologisches Hintergrundwissen durchaus von Vorteil sein. Die Kriminologie kommt aber im Rahmen der Ausbildung, wenn überhaupt, nur am Rande vor. Da trifft es sich gut, dass der DJT ebenfalls dafür gestimmt hat, das strafrechtliche Sanktionenrecht, insbesondere das Strafzumessungsrecht und die kriminologischen Grundlagen in das Referendariat aufzunehmen.

Absenkung Mindeststrafen

Geht es nach dem DJT sollen die Mindeststrafen für Delikte, bei denen die Gerichte im „Normalfall“ auf minder schwere Fälle zurückgreifen, herabgesenkt werden. Auch dies scheint mir eine gute Korrektur. So kann man beispielsweise den Tatbestand des (besonders) schweren Raubes bei Verwendung von gefährlichen Werkzeugen oder Waffen nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB mit einer Mindeststrafe von 5 Jahren(!) nur als verfehlt bezeichnen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieses Delikt häufig zumindest mit einem gefährlichen Werkzeug ausgeführt werden und so selbst dem Ersttäter eine fünfjährige Freiheitsstrafe droht, sofern kein minder schwerer Fall angenommen wird.

Regelbeispiele statt unbenannter besonders schwerer Fälle

Unbenannte besonders schwere Fälle sollen nach dem DJT durch Regelbeispiele ersetzt werden. Dies schränkt die Gerichte dahingehend ein, dass sie keine unbenannten besonders schweren Fälle mehr annehmen können. Dies kann man vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots begrüßen, es stellt sich aber auch die Frage, ob es nicht Fälle gibt, die nicht im Gesetz stehen, aber die Annahme eines besonders schweren Falles rechtfertigen.

Genau das ist ja auch der Grundgedanke von Regelbeispielen. Interessant wäre vor diesem Hintergrund mal eine Statistik, wie oft Gerichte überhaupt unbenannte besonders schwere Fälle annehmen oder bei Vorliegen eines benannten Regelbeispiels davon abweichen. Würde dabei rauskommen, dass die Gerichte von dieser Möglichkeit ohnehin kaum oder keinen Gebrauch machen, wäre das sicherlich ein Argument für die Abschaffung dieser Flexibilität.

Abschaffung der zwingend lebenslangen Freiheitsstrafe beim Mord

Zumindest alle Praktiker dürften sich einig sein, dass die zwingend lebenslange Freiheitsstrafe beim Mord nicht sachgerecht ist. Seit Jahrzehnten wird über die Reform diskutiert. Ob wir die noch erleben, steht in den Sternen…

Abschaffung des § 354 Abs. 1a StPO

Nach dem DJT soll § 354 Abs. 1a StPO, wonach das Revisionsgericht wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen kann, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist, abgeschafft werden, weil Strafzumessung nicht nach Aktenlage erfolgen könne und § 354 Abs. 1a StPO systemfremd sei. Dies stellt nach meiner Meinung eine positive Entwicklung hin zu einem gerechteren Strafzumessungsrecht dar.

Fazit

Ob die Änderungswünsche des DJT von der Politik aufgenommen werden, ist eine andere Frage; es finden sich aber jedenfalls interessante und gute Vorschläge, die zumindest diskussionswürdig sind. Einige andere Vorschläge würden hingegen kaum Auswirkungen auf die strafrechtliche Praxis haben.

Kann jeder

Nachdem mein Mandant in einer Strafsache freigesprochen wurde, geht es vor Gericht nun um die Frage, welche Anwaltskosten angemessen sind. Hier lehnt sich die Vertreterin der Staatskasse wortgewaltig aus dem Fenster, denn sie hält meine Tätigkeit eher für Pipifax:

Um einen Einspruch mit dem Hinweis zu formulieren, dass die falsche Person „Opfer“ des Strafbefehls wurde, bedarf es zumindest nicht eines abgeschlossenen Jurastudiums.

Ich finde das schon fast ein wenig makaber. Wenn man bedenkt, dass ein Staatsanwalt offensichtlich rein gar nichts gepeilt und ein Richter das groteske Ergebnis auch noch mit seiner Unterschrift unter den Strafbefehl abgesegnet hat. Da läge doch umgekehrt die Frage viel näher, für was so ein Jurastudium denn eigentlich gut sein soll bzw. sollte.

So eine Überheblichkeit macht sich gerade im Kontext klaren Behördenversagens, das für meinen Mandanten fast in einer empfindlichen Vorstrafe gemündet wäre, gar nicht gut. Das sieht das Gericht aber immerhin ähnlich, denn meine Gebühren wurden antragsgemäß bewilligt. Dagegen schäumt die Vertreterin der Staatskasse nun mit ihrer Beschwerde an.

Krasser Eigenbedarf

Wenn man Marihuana im Kilobereich besitzt, ist der Vorwurf des Drogenhandels regelmäßig nicht fern. Solche Mengen kann man nämlich kaum selbst aufrauchen, weil das Zeug ja irgendwann auch schlecht wird. Einem Mann ist es aber ausgerechnet in Bayern gelungen, das Strafgericht davon zu überzeugen, dass er riesige Mengen Marihuana nur für sich selbst braucht.

Insgesamt ging es um knapp viereinhalb Kilo Marihuana, die bei dem Mann zu Hause gefunden wurden. Vor Gericht sagte der 59-Jährige, er habe als Schüler mit dem Kiffen angefangen, weil er es nur so im Internat ausgehalten habe. Schnell habe er 15 g pro Tag (rund 500 Gramm im Monat) konsumiert, und das sei bis heute so geblieben. Seit dem 18. Lebensjahr baue er auch selbst an. Er leide unter den Folgen eines Wirbelbruchs, habe aber eine Verschreibung von Cannabis nicht erreichen können. In Deutschland war der Mann bislang nicht aufgefallen. Allerdings hatte er in Griechenland eine zehnjährige Freiheitsstrafe wegen Drogenschmuggels bekommen; vier Jahre musste er absitzen.

Ein medizinischer Sachverständiger sagte vor dem Amtsgericht München, die Haaranalyse des Angeklagten habe die höchsten Werte ergeben, die ihm in seiner weit über 20-jährigen Tätigkeit untergekommen seien. Die Konzentration sei so hoch, dass sie gut zu den Angaben des Angeklagten passen.

Also doch kein Drogenhandel, das eröffnete dem Amtsgericht München die Möglichkeit zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren. Das Gericht hielt dem Angeklagten auch zu Gute, dass er sozial integriert ist. Er vermietet Ferienwohnungen. Aufgeflogen war der Mann übrigens, weil Gäste in seiner Wohnanlage Cannabis-Duft wahrnahmen. Den Gästen soll er gesagt haben, das sei doch gut, dann würden die Kinder besser schlafen.

Mittlerweile will der Mann den Konsum komplett eingestellt haben. Das wies er laut dem Urteil auch durch medizinische Tests nach, was ihm sicher auch wichtige Pluspunkte brachte.

Aus meiner Sicht kann man auch dem Verteidiger des Angeklagten gratulieren, dass die Geschichte offenbar so glaubwürdig rüberkam. Denn selbst wenn sie stimmen sollte, war ja deswegen noch keiner gezwungen, sie auch zu glauben. (Aktenzeichen 1118 Ls 368 Js 139119/18).

Nicht so traurig, bitte

Ich habe einen Mandanten besucht, der in Untersuchungshaft sitzt. Dem Mann wird eine sehr schwere Straftat vorgeworfen. Ihm drohen etliche Jahre Haft. Ich persönlich meine aber nicht, dass an den Vorwürfen viel dran ist. Aber die Staatsanwaltschaft sieht das ganz anders. So wird es ein hartes Stück Arbeit werden, die Anklage zu entkräften.

Der Mandant hätte also allen Grund, den Kopf hängen zu lassen. Stattdessen betrat er mit strahlender Miene den Besuchsraum, in dem ich schon wartete. Seine ersten Worte: „Ich habe Sie schon durch die Scheibe gesehen. Gucken Sie doch nicht so traurig, dafür gibt’s bei dem schönen Wetter doch überhaupt keinen Grund.“

Grundsätzlich hätte das ja eher anders rum laufen sollen. Ich werde künftig etwas besser aufpassen, dass ich mein Lächeln rechtzeitig anknipse…

2 Pizza

Für die Polizei und die Staatsanwaltschaft war der Fall klar. Mein Mandant soll ein Drogendealer sein, und zwar gar nicht von einem kleinen Kaliber. Das alles soll sich aus den WhatsApp-Chats meines Mandanten mit einem anderen Mann ergeben, der wegen Drogenhandels observiert wurde. Angeblich hatte mein Mandant bei dem Betreffenden „2 Pizza“ gekauft…

… wobei „1 Pizza“ laut den Erkenntnissen der Polizei 200 Gramm Marihuana bedeutet. Das sei der einschlägige Code, den die Beamten entschlüsselt haben wollten. Die Sache schien so klar, dass man es gar nicht für nötig hielt, den (mittlerweile inhaftierten) vermeintlichen Geschäftspartner meines Mandanten zu befragen. So ein WhatsApp-Verlauf ist ja auch ein quasi amtliches Ding, das trägt locker einen Verbrechensvorwurf mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr Gefängnis. Demzufolge erfolgte die Anklage auch nicht vor dem Strafrichter, sondern gleich beim Schöffengericht.

In der Hauptverhandlung erlaubte ich mir für meinen Mandanten den Hinweis, dass die Pizza-Connection tatsächlich auf einem wenig soliden Fundament ruht. Sowohl die Polizei als auch der Staatsanwalt hatten bei ihrer Begeisterung für den großen Fang (weit über 50 Beschuldigte) übersehen, dass mein Mandant mit dem Verkäufer zwar mal über Marihuana verhandelt hatte. Von „Pizza“, wie wohl bei anderen Beschuldigten, stand da aber nichts. Vielmehr war in den Chats stets nur von „2 Stück“ die Rede. Der Begriff Pizza taucht schlicht und einfach nirgends auf.

Tja, und so bestätigte dann der im Gericht nun erstmals zu meinem Mandanten befragte Dealer zwar, dass mein Mandant einmal was bei ihm gekauft hat. Aber halt nur zwei Joints, das Stück für zehn Euro. Das wiederum entsprach eigentlich dem Befund der Hausdurchsuchung bei meinem Mandanten. Auf dessen Handy war nämlich überhaupt nichts gefunden worden, das auf eine Verkaufstätigkeit hindeutet. In der Wohnung fanden sich auch nur ein paar Krümel Marihuana auf dem Nachttisch. Also Eigengebrauch.

Binnen zehn Minuten waren wir weg vom Verbrechensvorwurf – und bei einer Einstellung des Verfahrens. Hierfür zahlt mein Mandant gerne eine ganz, ganz kleine Geldauflage, damit der Albtraum nun wirklich ein schnelles Ende hat. Ich für meinen Teil bin noch nicht so ganz darüber hinweg, wie schlampig in diesem Verfahren ermittelt und Anklage erhoben worden ist.

Eine Nacht mehr

Untersuchungshaft ist so ziemlich das Unerfreulichste, was einem im Umgang mit der Justiz passieren kann. Sie kommt meist plötzlich, reißt dich aus deinem Leben und lähmt dich zu so gut wie 100 %.

Dementsprechend erlebe ich als Verteidiger eigentlich nur Leute, die ganz dringend raus wollen. Und zwar sofort, besser noch gestern. Aber es gibt auch halt Ausnahmen – und die ist mir neulich in Norddeutschland begegnet.

Der Verhandlungstag war eigentlich recht erfolgreich verlaufen. Für den Mandanten gab es eine moderate Bewährungsstrafe. Und das Gericht hob auch sogleich den Haftbefehl auf. Der Haftbefehl hatte dem Mandanten einen mehrmonatigen Freiheitsentzug eingebracht.

Der Mandant hatte allerdings eigene Vorstellungen. Er wollte heute noch mal definitiv zurück in die Justizvollzugsanstalt und auf jeden Fall dort schlafen. Äh, bitte? Untersuchungshaft ohne Haftbefehl? Der wie immer bestens vorbereitete Mandant hatte auch gleich den richtigen Paragrafen parat: § 10 des Bremischen Untersuchungshaftgesetzes. Dieser sieht vor, dass dem Gefangenen „aus fürsorgerischen Gründen“ zugestanden werden kann, bis zum übernächsten Tag in der Haftanstalt zu bleiben. Das dürfte juristisch so zu verstehen sein, dass dem Gefangenen dieser Wunsch nicht abgeschlagen werden kann, sofern er ihn äußert.

Was natürlich so gut wie nie vorkommt. Die Richterin musste erst mal im Gesetz blättern, der Staatsanwalt musste erst mal blättern, und die anwesenden Anwälte ehrlich gesagt natürlich auch. Der Mandant ließ sich dann später tatsächlich noch mal von den Wachtmeistern abführen und abends für eine weitere Nacht in seine Zelle sperren. All das, nachdem er einige Formulare eilig herbeigeschaffte Formulare unterschrieben hatte, wonach dies alles sein freier Wille ist. Am nächsten Vormittag ging er dann aber nach Hause, obwohl er eigentlich noch eine Nacht hätte bleiben können.

Auch wenn ich noch paar Jahre bis zur Rente habe, ist nach meinem Gefühl die Wahrscheinlichkeit noch mal mit dem Paragrafen zu tun zu bekommen, doch sehr, sehr gering.

„Antiviraler“ Hustensaft

Ein Hustensaft darf nicht als „antiviral“ beworben werden, wenn die Wirkung bislang nur im Labor nachgewiesen wurde. Vielmehr ist es erforderlich, dass die positiven Wirkungen auch am Menschen belegt wurden, so das Landgericht Frankfurt am Main in einer aktuellen Entscheidung.

Der Hersteller hatte in seiner Werbung auf die „antivirale“ Wirkung hingewiesen und auch dazu geschrieben, der Hustensaft zeige diese Eigenschaften „im Labor“. In-vitro-Untersuchungen reichen aber nach Meinung des Gerichts nicht aus. Vielmehr müsse der Hersteller die Wirksamkeit zunächst am Menschen positiv belegen, wenn er mit den positiven Eigenschaften werben will. Positive klinische Tests konnte der Hersteller aber nicht vorlegen (Aktenzeichen 3-10 O 22/18).

Empfehlung der Polizei rechtfertigt kein Stadionverbot

Der Deutsche Fußballbund (DFB) darf Fans nicht einfach deswegen ein Stadionverbot erteilen, weil die Polizei dies so empfohlen hat. Vielmehr bedarf es einer tatsächlichen Grundlage, die der DFB auch selbst feststellen muss, wie das Amtsgericht Frankfurt am Main entschieden hat.

Geklagt hatte ein Fußballfan, der bisher nie negativ aufgefallen war. Sein Auto wurde auf einem Parkplatz kontrolliert, wo sich auch andere Fußballfans trafen. Insgesamt wurden 177 Personen kontrolliert, in einigen Autos fanden sich Vermummungs- und Schlaggegenstände. Im Auto des Klägers war nichts. Er erhielt zwar einen Platzverweis und wurde wie die anderen eine Nacht festgehalten, aber später wurde nicht weiter gegen ihn ermittelt.

Zwar steht es dem DFB laut Urteil grundsätzlich frei, über den Zutritt Dritter zu Stadien zu entscheiden. Der Ausschluss eines Einzelnen dürfe jedoch nicht ohne sachlichen Grund und nicht willkürlich erfolgen. Allein der Platzverweis und die Ingewahrsamnahme reichen aber nicht aus, um auf eine mögliche Gewaltbereitschaft des Klägers zu schließen. Zwar bedürfe es für eine Gefahrenprognose nicht unbedingt des Nachweises einer Straftat. Der DFB hätte aber eine „eigene Tatsachengrundlage“ ermitteln müssen. Auf die Empfehlung der Polizei alleine könne ein Stadionverbot nicht gestützt werden (Aktenzeichen 30 C 3466/17 (71)).

Der Kommissar hat das Geheule satt

Vor einigen Tagen habe ich einen Mandanten verteidigt, dem Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vorgeworfen wurde. Dass er sich verteidigen musste, ist deshalb schon interessant, weil es am Ende mein Mandant war, der zwei gebrochene Rippen und eine gebrochene Nase hatte, während es den beteiligten Polizisten noch super ging. Verletzungen, die sich mein Mandant angeblich bei einer Widerstandshandlung zugezogen hatte, nachdem ihn mehrere Polizisten zu Boden gebracht hatten.

Ich will gar nicht in die Tiefen der Geschichte gehen. Vielleicht genügt es als Zusammenfassung, dass die Geschichte, welche die Beamten vor Gericht erzählten, schon etwas merkwürdig war. Ich hatte dem Mandanten geraten, dass er offen zu seinem Fehler steht. Nämlich dem Versuch, um die Ausweiskontrolle rumzukommen. Und auch dazu, dass er die Beamten auf jeden Fall verbal angegangen ist und sich auch dagegen gesperrt hat, als ihm Handfesseln angelegt werden sollten.

Die Hoffnung war, um eine Vorstrafe rumzukommen. Ich hatte keine Ahnung, ob das klappt – bis der Hauptbelastungszeuge sich in den Zeugenstand setzte. Auf das, was der Herr Kommissar sagte, will ich gar nicht eingehen. Sondern nur darauf, wie er auf die Entschuldigung reagierte, die mein Mandant am Ende der Vernehmung auf meine Empfehlung vorbrachte.

Der Beamte lief tiefrot an und tillte regelrecht aus. Mein Mandant solle ihm bloß nicht so kommen. So was könne er schon gar nicht mehr hören. Er habe dieses Geheule satt, das er von Angeklagten immer im Gerichtssaal zu hören bekomme. Die Entschuldigung nehme er auf keinen Fall an, mit so was könne man ihn grundsätzlich in Ruhe lassen.

Auf den Richter und den Staatsanwalt wirkte dieser Ausbruch ebenso wie auf mich. Nämlich als Beleg, dass es in der Geschichte sicher nicht nur schwarz und weiß gab. Zwei Minuten später war das Verfahren eingestellt, gegen Zahlung eines dreistelligen Betrages für Amnesty International.

Der Beamte saß hinten im Saal und verstand die Welt nicht mehr. Es fand sich aber niemand, der ihm erklärte, was sich da jetzt zugetragen hat.

Keine Verzugspauschale für Arbeitnehmer

Das Gesetz hört sich mitunter super an. Zum Beispiel § 288 BGB. Nach dieser Vorschrift ist eine Pauschale von 40 Euro fällig, wenn jemand sich mit einer fälligen Zahlung zu viel Zeit lässt. Die gesetzlichen Zinsen kommen obendrauf.

Interessant klingt die Regelung natürlich auch für Arbeitnehmer, deren Chef notorisch unpünktlich zahlt. 40 Euro sind ja schon mal eine Ansage. Womöglich auch für eine Zeitarbeitsfirma, mit der ich es in einem Fall derzeit zu tun habe.

Ich unterstütze eine Jurastudentin aus der Familie. Diese hat während der Semesterferien bei einer Zeitarbeitsfirma angeheuert. Abgerechnet wurde ihr Lohn schon vor knapp zwei Wochen. Nur – es kommt kein Geld. Da fand ich es doch eine gute Idee, in meinem Mahnschreiben vom gestrigen Tage auf die Verzugspauschale in § 288 BGB hinzuweisen und diese auch geltend zu machen.

Wir reden über den ersten Arbeitsrechtsfall, den ich seit zehn Jahren bearbeite. Da ist es fast schon ein Treppenwitz, wenn das Bundesarbeitsgericht am gleichen Tag in einem Grundsatzurteil alle Arbeitnehmer von der Verzugspauschale ausnimmt. Einem Arbeitnehmer steht die Pauschale nach Auffassung der Richter nicht zu, obwohl sich aus dem Gesetz nach meiner Meinung (und zum Beispiel der des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf) doch eher genau das Gegenteil ergibt. Einzelheiten zum BAG-Urteil stehen in diesem Artikel der LTO.

Die 40-Euro-Drohung ist jetzt futsch. Bleiben also noch die gesetzlichen Verzugszinsen. Diese sind wegen des negativen Basiszinssatzes ja kaum der Rede Wert (aktuell sprechen wir in dem Fall über Zinsen in Höhe von 2,10 Euro).

Auch ansonsten bleiben anscheinend wenig Möglichkeiten, den Arbeitgeber zur Zahlung zu bewegen. So ist es im Arbeitsgerichtsverfahren so, dass es keine Kostenerstattung in der 1. Instanz gibt. Wenn ich die Studentin zu einem Arbeitsrechtler geschickt hätte, würde sie in jedem Fall auf dessen Anwaltskosten sitzenbleiben – selbst wenn sie den Prozess gewinnt. (Was natürlich zum Beispiel für alle Kollegen der Studentin schlecht ist, die ebenfalls noch kein Geld haben, aber auch keinen Anwalt kennen, der ihnen pro bono hilft).

Halten wir fest: Es gibt wenige Möglichkeiten, einen Arbeitgeber, der einfach nicht zahlt, zügig an die juristische Kandare zu nehmen. Seit gestern gibt es – danke, Bundesarbeitsgericht – noch eine Möglichkeit weniger. Bleibt also nur eine zügige Klage vor dem Arbeitsgericht; die Uhr mit dem Insolvenzrisiko tickt ja ansonsten gnadenlos.

Vielleicht hilft ja noch meine Ankündigung einer Strafanzeige hinsichtlich der abgerechneten Sozialabgaben, sofern diese nicht fristgerecht abgeführt wurden. Mal schauen. Wenigstens habe ich es zum Arbeitsgericht nicht sonderlich weit. Ich habe gerade mal vorsorglich gegoogelt, ob das Gericht noch an der letzten mir bekannten Adresse ist…

Nachtrag 27.09.: Juchhu, die Gegenseite hat alles bezahlt, auch die Verzugspauschale. Manchmal sind wir Anwälte halt auch für was gut.

Kein neues Recht für alte Fälle

Gastbeitrag von Dr. André Bohn, Assessor und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität-Bochum

Die 79 Kommentare zu dem letzten Post „Was, wenn Ulvi K. doch ein Mörder ist?“ zeigen, dass das Thema Interesse weckt und zu Diskussionen anregt. Daher noch mal ein kleiner Überblick zur Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Angeklagten bei Vorliegen neuer Beweise:

Art. 103 Abs. 3 GG normiert den Grundsatz „ne bis in idem“. Nach seinem Wortlaut verbietet er nur jede erneute Bestrafung, aber es besteht Einigkeit, dass der Schutz sich über den Wortlaut hinaus auch auf erneute Verfolgungen bezieht. Ulvi K. darf also nicht noch einmal der Prozess gemacht werden.

In § 362 StPO sind momentan als Ausnahme zu Art. 103 Abs. 3 GG vier Wiederaufnahmegründe normiert. Die Nummern 1-3 betreffen Fehler im Ausgangsverfahren, Nr. 4 normiert das Geständnis des Freigesprochenen als Wiederaufnahmegrund.
In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Gesetzesinitiativen, um in § 362 StPO einen Wiederaufnahmegrund wegen neuer Beweise einzuführen – den es bislang nicht gibt.

In der Regel werden Einzelfälle, deren juristisches Ergebnis als unhaltbar angesehen wird, zur Grundlage solcher Initiativen. Der letzte die Gemüter erhitzende Fall, der zu einer solchen Initiative führte, betraf ein damals 17-jähriges Mädchen, das vergewaltigt und ermordet worden war. Die Polizei ermittelte einen Tatverdächtigen, der zunächst zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Dieses Urteil hob der Bundesgerichtshof auf.

In dem darauf folgenden zweiten Prozess erging ein Freispruch. Jahre später konnte dann aufgrund neuer Untersuchungsmethoden DNA des Freigesprochenen an der Binde des Opfers gefunden werden. Eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens war aber nicht möglich. Der Vater der Getöteten initiierte eine Online-Petition zur Erweiterung des § 362 StPO, die über 105.000 Unterschriften erreichte.

Zu einer Gesetzesänderung kam es zwar nicht, aber auch im momentan geltenden Koalitionsvertrag findet sich der Satz: „Wir erweitern die Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten der oder des freigesprochenen Angeklagten in Bezug auf die nicht verjährbaren Straftaten.“

Eine solche Änderung wäre juristisch aber alles andere als unproblematisch, um nicht zu sagen verfassungswidrig:
Art. 103 Abs. 3 GG stellt ein schrankenlos gewährleistetes (Justiz-)Grundrecht dar. Es kann daher nur durch verfassungsimmanente Schranken, also andere Güter von Verfassungsrang, beschränkt werden. Die materielle Gerechtigkeit, der die Wiederaufnahme des Strafverfahrens dient, ist ein solches Gut.

Ausgehend von dem Prinzip der praktischen Konkordanz muss § 362 StPO aber die sich gegenüberstehenden Rechtsgüter in einen möglichst schonenden Ausgleich bringen, sodass die beiden Rechtsgüter – jeweils beschränkt durch das andere – zu möglichst optimaler Wirksamkeit gelangen. Bei Einführung eines Wideraufnahmegrundes wegen neuer Beweise würde die in Art. 103 Abs. 3 GG verbürgte Rechtssicherheit des Freigesprochenen jedoch in solchen Fällen gar keine Wirksamkeit mehr entfalten.

Im Übrigen könnte eine entsprechende Änderung aufgrund des Rückwirkungsverbots nicht auf Altfälle angewendet werden. Die in solchen Fällen oft eingeforderte Gerechtigkeit kann daher in Bezug auf die Altfälle ohnehin nicht erreicht werden.

Schockbilder vor einer Grundschule

Ein Abtreibungsgegner hatte sein Auto mit Fotos abgetriebener und zerstückelter Föten beklebt. Es handelte sich um Bilder von seiner Internetseite, welche die Bundesaufsicht für jugendgefährdende Medien bereits als jugendgefährdend eingestuft hat. Außerdem nutzte der Mann das Fahrzeug als Fläche für Slogans wie „damals Holocaust – heute Babycaust“. Als er sein Auto während der Unterrichtszeiten direkt vor einer Grundschule abstellte, ließ die Stadtpolizei Darmstadt das Auto abschleppen. Der Streit, wer die Kosten zu tragen hat, führte nun zu einem Rechtsstreit.

Das Verwaltungsgericht Darmstadt billigt dem Mann zwar zu, auf seinem Auto „Werbung“ auch für politische Ansichten zu machen. Allerdings sei die Grenze jedenfalls dort überschritten, wo das Wohl der Grundschulkinder unmittelbar gefährdet sei. Die Kinder seien konkret in Gefahr gewesen, ohne jede pädagogische oder erzieherisch Unterstützung mit den brutalen Bildern und den Slogans konfrontiert zu werden.

Darin sieht das Gericht eine Belästigung der Allgemeinheit (§ 118 OWiG), die mit einem Bußgeld geahndet werden kann. Dementsprechend sei die Polizei auch berechtigt gewesen, die damit verbundene Gefahr zu beseitigen, indem sie das Auto abschleppte. Ob der Mann tatsächlich auf Kinder einwirken wollte oder nur zufällig vor der Schule parkte, spielt laut dem Gericht keine Rolle (Aktenzeichen 3 K 1937/17.DA).

Mann schießt sich Wattestäbchen in den Kopf

Mit einem ungewöhnlichen Fall aus dem Waffenrecht musste sich das Amtsgericht München beschäftigen. Es ging um einen Mann, der mit einem illegalen Revolver Russisch Roulette spielte. Die Patrone hatte er allerdings durch ein halbiertes Wattestäbchen ersetzt.

Das wiederum war erst mal gar nicht dumm, denn ansonsten wäre der Mann jetzt wahrscheinlich tot. Immerhin hatte er die Waffe tatsächlich ausgelöst in der Meinung, dass die Kammer mit dem Wattestäbchen nicht „scharf“ ist. Tatsächlich wurde das Stäbchen aber in Bewegung gesetzt. Es drang durch die Schädeldecke zwei Millimeter ins Gehirn des Mannes ein. (Ich kann mir das wirklich schlecht vorstellen, aber so steht es tatsächlich in der Pressemitteilung des Amtsgerichts München.)

Der Mann bekam eine Titanplatte eingesetzt und wurde auf eigenen Wunsch nach acht Tagen aus dem Krankenhaus entlassen. Er will noch immer an Schwindelattacken leiden und hofft nun darauf, dass ihm eine Schwerbehinderung anerkannt wird. Auf die Frage des Gerichts, wie ein erwachsener Mensch auf so eine Idee kommen könne, wies er darauf hin, dass er schon seit Jugendtagen Marihuana und später auch härtere Drogen konsumiere.

Den Revolver (Kaliber 4 mm) hatte der Mann nach eigenen Angaben in einer Mülltonne gefunden. Der Richter verurteilte den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes einer Schusswaffe und unerlaubtem Führen einer Schusswaffe zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen. Dass es bei einer Geldstrafe blieb, begründete das Gericht mit den Folgen der Tat, die den Angeklagten schon schwer getroffen hätten (Aktenzeichen 1116 Ds 117 Js 217523/17).

Kompliment

„Ein Arschloch bleibt ein Arschloch“, schallte es heute sehr laut durchs Amtsgericht Ratingen.

Der Ausspruch fiel aus dem Mund der Hauptbelastungszeugin und vermeintlich Geschädigten. Kurz zuvor war mein Mandant freigesprochen worden.

Demgemäß nehme ich es einfach mal als Kompliment.