Ohne Ladung kein Zutritt

Letztens habe ich an einem kleineren Amtsgericht verteidigt. Der Prozess war wenig spektakulär, interessant wurde es aber als ich nachher von einer Person erfuhr, die beim Prozess hatte „zugucken“ wollen, von dem Justizbeamten an der Pforte aber nicht reingelassen wurde. Er begründete das mit dem Corona-Virus, fragte nach, zu welchem Prozess man denn wolle und warum und verhielt sich wohl insgesamt eher herablassend.

Die eine Sache ist, dass der Justizbeamte mir mit diesem Verhalten einen absoluten Revisionsgrund geschaffen hat; denn nach § 338 Nr. 6 StPO beruht ein Urteil immer auf einer Gesetzesverletzung, wenn die Vorschriften über die Öffentlichkeit verletzt wurden. Dies ist, wenn Zuhörern der Eintritt verwehrt wird, definitiv der Fall. Und ich dachte, solche Fälle werden nur in Klausuren abgefragt.

Die andere Sache ist, dass hier ein Justizbeamter anscheinend keine Ahnung von elementaren rechtsstaatlichen Grundsätzen hat. Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist ein wichtiger strafrechtlicher Grundsatz, wonach Hauptverhandlungen grundsätzlich öffentlich, das heißt frei zugänglich, sind. Die Idee dahinter ist eine Kontrolle der Justiz (auch) durch die Bevölkerung, immerhin ergehen Urteile ja auch im Namen des Volkes. Der Grundsatz kann unter gewissen Voraussetzungen eingeschränkt werden, aber natürlich darf ein Justizbeamter an der Pforte nicht in Eigenregie Zuschauer nur deswegen abweisen, weil sie keine Ladung oder einen sonstigen Termin im Gericht haben.

RA Dr. André Bohn

Karlsruhe zählt einen Asylrichter an

Ein Gießener Richter ist nicht geeignet, Asylverfahren zu bearbeiten. Diese „dienstliche Beurteilung“ kommt von höchster Stelle – dem Bundesverfassungsgericht. Die 1. Kammer des Zweiten Senats erklärt einen Befangenheitsantrag für begründet, den ein abgelehnter Asylbewerber gegen den Richter gestellt hat. Zur Begründung bezog sich der Kläger auf ein früheres Urteil des Richters, mit dem dieser sich, nun ja, sehr pointiert geäußert hat.

In dem früheren Verfahren musste der Richter darüber entscheiden, ob ausländerfeindliche Wahlplakate der NPD aufgehängt werden dürfen. Er gab der Klage (aus formalen Gründen) statt, schrieb dann aber weiter in das Urteil, der fragliche Slogan „Migration tötet“ sei nicht volksverhetzend, sondern als „die Realität darstellend zu bewerten“. Weiter heißt es:

In der Tat hat die Zuwanderungsbewegung nach Deutschland ab dem Jahr 2014/2015 zu einer Veränderung innerhalb der Gesellschaft geführt, die sowohl zum Tode von Menschen geführt hat als auch geeignet ist, auf lange Sicht zum Tod der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen. … Allein dem erkennenden Gericht sind Fälle bekannt, in denen Asylbewerber zu Mördern wurden.

Rund 85 % Prozent des Urteils macht laut dem Verfassungsgericht dann die Begründung dieser Thesen aus. Am Ende stehe auch noch der Hinweis auf das Widerstandsrecht, sobald der deutsche Staat „einmal in die Handlungsunfähigkeit abrutschen“ sollte. Das alles ist den Verfassungsrichtern dann doch zu viel. Sie verweisen recht nüchtern darauf, dass der Richter von Einzelfällen aufs Ganze schließe und das Thema Migration auf die Flüchtlings- und Asyproblematik verenge. Insgesamt liege es schlicht auf der Hand, dass der klagende Asylbewerber nicht auf die Unparteilichkeit des zuständigen Richters vertrauen dürfe.

Die Kritik richtet sich aber auch an die Richter, die über den Befangenheitsantrag entschieden haben. Diese hätten den Kern der Behauptungen ihres Richterkollegen „willkürlich“ ignoriert oder falsch gewichtet. Prozessual interessant wird der Fall durch den Umstand, dass der abgelehnte Richter der Klage des Asylbewerbers mittlerweile zumindest teilweise stattgegeben und ihm subsidiären Schutz gewährt hat. Laut der Karlsruher Entscheidung ist der für den Kläger positive Teil des Urteils aber nicht hinfällig. Es muss nur noch mal über den weitergehenden Klageantrag entschieden werden (Aktenzeichen 2 BvR 890/20).

Karten auf den Tisch, bitte

Könnte sein, dass Herr N. einen Fehler gemacht hat. In Form einer Darknet-Bestellung, etwa drei Gramm Gras sollen bei der Zollkontrolle im Postamt beschlagnahmt worden sein. Das sind ja mittlerweile alltägliche Fälle, für die du als Strafverteidiger in der Regel geeignete Exitstrategien darstellen kannst.

Gestaunt habe ich allerdings über den Fragebogen. Diesen hat die zuständige Polizeibeamtin der Information darüber beigefügt, dass sie gegen meinen Mandanten ermittelt. Hier könnt ihr euch das Dokument anschauen.

Es geht, wie gesagt, um eine geringe Menge zum Eigengebrauch. Dazu dann also diese wahrlich treffenden Fragen:

Wie sind Sie in den Besitz der sichergestellten Drogen gekommen? Preis?

Woher und vom wem beziehen Sie die illegalen Drogen und zu welchem Preis?

Seit wann nehmen Sie illegale Drogen? Welche?

Welche illegalen Drogen nehmen Sie zurzeit? Wie oft und in welchen Mengen?

Sind Sie drogenabhängig?

Wollen Sie von Drogen loskommen?

Herr N. sagt, eigentlich wollte er die Sache selbst aus der Welt schaffen. Bis er den Fragebogen gelesen hat. Da war ihm klar, dass er vielleicht doch besser zum Anwalt geht.

In diesem Sinne, vielen Dank an die Kommissarin für die Vermittlung des Mandants.

Gericht billigt Strafzinsen

„I spent a lot of money on booze, birds and fast cars – the rest I just squandered.“ Diese dem Fußballer George Best zugeschriebene Erkenntnis kam mir in den Sinn, als ich heute von einem aktuellen Urteil des Landgerichts Leipzig las. Die Richter segnen nämlich eine wesentlich unangenehmere Möglichkeit ab, ärmer zu werden. Es geht um Straf- bzw. Negativzinsen, die jetzt ja unter dem hübschen Namen „Verwahrentgelt“ von immer mehr Banken nur dafür erhoben werden, dass der Kunde Geld auf dem Konto hat.

Die Verbraucherzentrale Sachsen hatte sich mit ihrer Klage gegen die Sparkasse Vogtland eigentlich ein Präzedenzurteil in die Richtung erhofft, dass ein Negativzins gegenüber Verbrauchern nicht verhängt werden kann. Stattdessen zeigen die Richter Verständnis für die wirtschaftlichen Nöte der Banken, wie die tagesschau berichtet.

Ein Banker hat mir vor einigen Tagen erklärt, dass das Verwahrentgelt an sich nur ein Türöffner ist. Mit diesem Schreckgespenst lassen sich Kunden in Fonds- und ETF-Käufer wandeln, welche dieses Risiko ohne Negativzinsen niemals eingegangen wären. Das bringt schöne Provisionen, die Nachfrage führt zu steigenden Kursen – und alle sind erst mal glücklich. Fast so wie George Best, nur vielleicht nicht so dauerhaft.

NRW-Richter zweifelt am Cannisverbot

Was den juristischen Umgang mit Cannabis zum Eigenbedarf angeht, ist die Republik ein großer Flickenteppich. Mal wird über eher stattliche Mengen großzügig hinweggesehen, andernorts werden sogar Mengen im Zehntelgrammbereich zum Gegenstand von Strafbefehlen oder gar Anklagen gemacht. Ein Richter aus Münster will sich hieran nicht beteiligen. Er lehnt es ab, einen jungen Mann wegen eines Cliptütchens mit stolzen 0,4 Marihuana zu einer Geldstrafe zu verurteilen.

Deswegen hat sich der Richter nun ans Bundesverfassungsgericht gewandt. Er schließt sich weitgehend einem Normenkontrollantrag des Amtsgerichts Bernau an. Mit diesem Antrag startete der der dortige Jugendrichter Andreas Müller im April 2020 den Versuch, den Besitz geringer Mengen für den Eigengebrauch legalisieren zu lassen. Im Jahr 2002 hatte Müller schon mal einen Antrag gestellt, der aber keinen Erfolg hatte.

Trotzdem sind Müller und der Münsteraner Richter zuversichtlich, dass die Zeichen der Zeit auf Liberalisierung, zumindest aber auf Vereinheitlichung stehen. Die Legal Tribune Online zitiert Müller mit dieser Einschätzung:

Es hat sich seit 2002 einiges getan: Cannabis hat sich nicht nur in der Medizin durchgesetzt. Auch ansonsten hat sich das gesellschaftliche und politische Klima bei dem Thema fundamental geändert. Inzwischen hält es die ganz normale Bevölkerung nicht mehr für zeitgemäß, wenn erwachsene Konsument:innen wegen weniger Gramm Gras oder Haschisch strafrechtlich verfolgt werden.

Wann das Bundesverfassungsgericht entscheidet, ist noch offen.

i.Z.V.

In Köln ist ein früherer Rechtsanwalt freigesprochen worden. Er soll sich weiterhin als Rechtsanwalt ausgegeben haben, obwohl er seine Zulassung bereits im Jahre 2007 zurückgegeben hat. Das wäre strafbar (§ 132a StGB).

Der Anklagevorwurf bot dem Betroffenen in der Tat gute Möglichkeiten für eine erfolgreiche Verteidigung in eigener Sache. Denn die Staatsanwaltschaft legte dem Juristen zur Last, er habe ein Schreiben an die Kölner Polizei wie folgt unterschrieben:

Rechtsanwalt von 2000 bis 2007 und demnächst wieder, wegen immer neuer Verfahren der Staatsanwaltschaft Köln aber leider noch nicht vereidigt, daher weiterhin im Zulassungs-Verfahren, also i.Z.V.

Bei t-online kann man nachlesen, wie sich der künftige Kollege verteidigt hat:

Wie kann ich mit der Aussage, dass ich Rechtsanwalt war und es demnächst wieder bin, den Eindruck erwecken, es gegenwärtig zu sein?

Das sah neben dem Gericht dann auch die Staatsanwältin so. Auch in zwei weiteren Fällen reichte nicht für eine Strafbarkeit. Zwar hatte sich der Angeklagte auch hier als „Rechtsanwalt i.Z.V.“ bezeichnet. Er wies allerdings darauf hin, er sei nach seinem „ausgeübten Beruf“ gefragt worden. Das sei aber sprachlich ein Partizip Perfekt Passiv und beziehe sich somit auf die Vergangenheit. Überdies veräppele er mit seinen Abkürzungen das Behördendeutsch.

Wie auch immer, am Ende stand ein Freispruch. Bleibt nur zu hoffen, dass dem Anwalts-Aspiranten nicht mehr allzu viele Verfahren im Wege stehen.

Blanko-Kalenderblätter

Es gibt ja unterschiedliche Methoden, Termine abzustimmen. Als Anwalt freust du dich über jede, welche das Gericht ergreift. Denn jede vorherige Absprache ist besser als die endlose Zeit, die nach dem Eingang einer Ladung für Terminsverlegungsanträge und -diskussionen draufgeht. Und zwar auch für das Gericht.

Neu ist für mich die Praxis einer Richterin, die mir und den anderen Anwälten nun Blanko-Kalenderblätter für die Monate August bis November 2021 schickte. Mit der Bitte einzutragen bzw. anzukreuzen, an welchen Tagen noch Luft ist.

Ich habe es mir einfach gemacht und die Agenda von meinem Kalender geschickt, natürlich ohne ausgeschriebene Mandantennamen. Ich durfte nur nicht vergessen darauf hinzuweisen, dass der 14-tägliche Termin „P.r.“ an Donnerstagen zwar wichtig ist, aber ich an den Tagen trotzdem zum Gericht kommen kann.

„P.r.“ steht für Papiertonne rausstellen.

23 Monate <-> 10 Tage

23 Monate ist es her, dass ich eine Ermittlungsakte zuletzt zur Einsicht im Büro hatte. Seinerzeit schickte ich die Unterlagen zurück und legte eine Verteidigungsschrift bei. Deren Inhalt sorgte für, nun ja, eine gewisse Betriebsamkeit bei der Staatsanwaltschaft und der Polizei. Hektisch würde ich diese allerdings nicht nennen.

Es dauerte die erwähnten fast zwei Jahre, bis nun ein „ergänzender Abschlussbericht“ vorgelegt wurde. Der umfasst immerhin 49 Seiten. Aber auf den Inhalt kommt es mir hier gar nicht an. Sondern auf die Vorstellung der zuständigen Staatsanwältin, dass sie meine Stellungnahme erwartet, ich ztiere: „binnen 10 Tagen, danach ergeht Entscheidung nach Aktenlage“.

Gut, vielleicht hat sie sich mit Blick auf das eigene Arbeitstempo und das der Polizei nur verschrieben. Und meinte eigentlich „10 Monate“. War aber nicht so, wie ich in einem Telefonat herausfinden konnte. Es ist übrigens nie eine schlechte Idee, in solchen Fällen das persönliche Gespräch zu suchen, statt direkt böse beA-Nachrichten zu verfassen. So ganz verständnislos für die Arbeitsbelastung eines Anwalts sind Staatsanwälte nämlich gar nicht. Bis zum 2.11. habe ich jetzt Zeit, damit kann ich leben.

EncroChat-Daten: Ein Gericht sieht es anders

Wir hatten schon einmal über die Verwertung der höchstwahrscheinlich rechtswidrig erlangten EncroChat-Daten berichtet. Das Landgericht Berlin hat sich nun gegen die bisherige Linie anderer Gerichte gestellt, welche auf der Basis der EncroChat-Dateien schon etliche Angeklagte verurteilt haben. Das Landgericht Berlin lehnt dagegen die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen zwei mutmaßliche Drogendealer ab, weil die Beweise maßgeblich aus EncroChat-Kommunikation herrühren und das Gericht die Erkenntnisse für unverwertbar hält (Bericht im Spiegel).

Die Richter bemängeln, dass beschuldigtenschützende Vorschriften des Rechtshilferechts umgangen worden seien und kein konkreter Tatverdacht vorlag. Auch hätten die deutschen Behörden unterrichtet werden müssen, sofern aus einem anderen Land Personen auf deutschem Staatsgebiet überwacht werden sollten. Auch dies hätte nicht stattgefunden. Weiterhin unterließen es die deutschen Behörden auch zu prüfen, ob ein entsprechendes Vorgehen nach deutschem Recht zulässig gewesen wäre. Auch dies hätte aber – so das Gericht – gemacht werden müssen. Die Staatsanwaltschaft will nun Beschwerde gegen den Nichteröffnungsbeschluss einlegen.

Ich positiv überrascht, dass sich ein Gericht dazu durchringen konnte, EncroChat-Daten für unverwertbar zu erklären. Es ist offensichtlich, dass die Erlangung der Daten nach deutschem Recht rechtswidrig war. Zwar kann man nach deutschem Recht je nach Schwere des Vorwurfs trotzdem noch zu einer Verwertbarkeit der Beweise kommen, aber jetzt besteht zumindest ein Präzedenzfall, in dem von einer Unverwertbarkeit ausgegangen wird. Dies ist aber sicherlich nicht das Ende der Fahnenstange. Es wird etwas dauern, aber der Bundesgerichtshof, das Bundesverfassungsgericht und wahrscheinlich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte werden sich auch noch mit der Materie auseinandersetzen müssen.

Link zum Beschluss des Landgerichts Berlin

RA Dr. André Bohn

Exotische Ziele

15 Stunden Fortbildung muss ein Fachanwalt absolvieren. Pro Jahr. Als „exotisches“ Ziel für so ein Seminar war mir bisher Mallorca bekannt, wohin schon seit vielen Jahren Bildungsreisen dieser Art gehen. Aber womöglich kannte ich das Angebot der Firma SiS – Seminare im Schloss einfach noch nicht. Ich zitiere aus dem aktuellen Newsletter:

Darüber hinaus machen wir Sie jetzt bereits aufmerksam auf eine Reihe von Auslandsseminaren, bei denen Sie auf dem Fachgebiet Strafrecht Fortbildung gem. Fachanwaltsordnung absolvieren und die Reisekosten steuerlich absetzen können:

Istanbul – 11. – 15. 08. 2021

Kenia – 25. 12. – 07. 01. 2022

Florida – 25. 02. – 06.03. 2022

Namibia – 13. 04. – 24.04./ 01.05.2022

Kapstadt – 03. – 12. 06. 2022

Die Fortbildung wird so eingeplant, dass Sie – steuerlich gesehen – täglich Anlass zu der Reise haben (BFH, U v 21. April 2010, VI R 5/07)

Jetzt wisst ihr auch, warum das „exotisch“ im zweiten Satz in Anführungszeichen steht. Mir fehlt allerdings ein klein wenig der Glaube, dass die Diskussion mit dem Prüfer vom Finanzamt wirklich so schmerzfrei verläuft.

Fundsache

Aus einem Durchsuchungsbericht:

In der linken Schublade (Schreibtisch) wurde eine Zusammenrottung von Kassenbons aufgefunden.

Hätte man damit rechnen müssen?

Das Landgericht Mühlhausen hat die Eröffnung des Hauptverfahrens im Hinblick auf eine fahrlässige Tötung abgelehnt (Aktenzeichen 3 Qs 43/21). Der Beschuldigte war nachts auf einer unbeleuchteten Landstraße mit dem Auto unterwegs und überfuhr einen dunkel gekleideten Mann, der mitten auf der Straße lag. Der Mann erlag seinen Verletzungen.

Das Landgericht argumentiert, es sei für den Beschuldigten nicht vorhersehbar gewesen, dass ein Fußgänger auf der Straße liegt bzw. liegen könnte. Zwar müsse man im Straßenverkehr mit – teilweise auch grober – Unachtsamkeit anderer Verkehrsteilnehmer rechnen. Dies gelte aber nicht für ein solch selbst gefährdendes Verhalten wie das Hinlegen auf eine befahrenen Straße. Hinzu komme, dass sich das Geschehen im Winter abspielte, es geschneit hatte und sehr kalt war. Im Prozess kam raus, dass der Getötete unter Alkoholeinfluss und Einfluss von MDMA stand.

Interessant ist, dass das Oberlandesgericht Hamm in einem ähnlichen Fall entgegengesetzt entschied: Das Liegen einer Person auf der Fahrbahn sei vorhersehbar gewesen. Einer der Unterschiede war jedoch, dass zu diesem Zeitpunkt gutes Wetter war. Der Kollege Burhoff berichtet über beide Fälle.

Bei Fahrlässigkeitsdelikten besteht die Gefahr eines sogenannten Rückschaufehlers. Psychologisch neigen Menschen nämlich dazu, im Nachhinein überhöhte Anforderungen an normgerechtes Verhalten und an die Vorhersehbarkeit des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolgs zu stellen. Dann war auf einmal Vieles vorhersehbar und sorgfaltspflichtwidrig, obwohl die betroffene Personen die konkrete Situation, die sich häufig in Sekundenbruchteilen abspielt, in dem Moment gar nicht überblicken und danach handeln und erst recht nicht die eingetretenen Folgen vorhersehen konnte.

Diesem Fehler ist das Gericht hier nicht unterlegen. Alles andere wäre wohl auch lebensfremd: Dass bei Dunkelheit, Schneetreiben und kalten Temperaturen ein Mensch mitten auf der Straße liegt, ist alles andere, aber nicht vorhersehbar. Erstaunlich erscheint mir hingegen das die Entscheidung des Oberlandesgericht Hamm; denn allein der Umstand, dass in diesem Fall gutes Wetter war, rechtfertigt meines Erachtens keine andere Betrachtung.

RA Dr. André Bohn

Polizei „vergisst“, Beweisvideo zu sichern

In Idstein wurde ein Mann von der Polizei fixiert. Zuvor war es zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen, über deren Ursache gestritten wird. Der Mann hat während der Fixierung gerufen, dass er keine Luft bekomme. Das Ganze spielte sich vor der Polizeiwache in Idstein ab, dieser Bereich wird videoüberwacht. Nun ist nur leider angeblich versäumt worden, dass unstreitig mal vorhandene Überwachungsvideo dauerhaft zu sichern.

Der betroffene Mann wollte das nicht auf sich sitzen lassen. Er zeigte die für die Sicherung des Videos verantwortlichen Beamten wegen Unterdrückung beweiserheblicher Daten und Strafvereitelung im Amt an. Wegen des Verhaltens der Einsatzkräfte selbst wird wegen Körperverletzung im Amt und Freiheitsberaubung ermittelt. Gegen den Betroffenen laufen Ermittlungen wegen Körperverletzung und tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte.

Interessant ist, dass der Anwalt des Betroffenen extra bei der Polizei anrief, um das Video sichern zu lassen. Am Telefon wurde ihm dies zugesichert. Aus der Akte ergibt sich zudem, dass das Video einen Tag nach dem Vorfall angesehen wurde. Es ist kaum zu glauben, dass es dann fahrlässig versäumt wurde, das Video zu sichern. Einer der verantwortlichen Beamten hat sich auf andere Aufgaben berufen, die zu einer Verzögerung geführt hätten. Er sei außerdem irrtümlich davon ausgegangen, die Videos würden sieben bis acht Wochen zur Verfügung stehen – und nicht nur 21 Tage.

Zum Glück waren noch weitere Personen vor Ort, die den Vorfall mit mit ihren Handys aufzeichneten. Auf den Videos ist zu sehen, wie drei Beamte den Betroffenen zu Boden drücken, und man hört auch, dass er ruft, dass er keine Luft mehr bekomme und Panik kriege. Allerdings ist das Vorgeschehen nicht zu sehen. Die Beamten sagen, der Betroffene habe versucht, ihnen das Pfefferspray zu entreißen.

Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen den verantwortlichen Polizeibeamten für die Sicherung wohl bereits abgeschlossen. Der Beamte habe „zweifelsfrei nicht vorsätzlich“ gehandelt; deshalb liege kein strafbares Verhalten vor.

Ohne das Video wird man nun nicht aufklären können, was tatsächlich im Vorfeld passiert ist. Im Zweifel steht dann Aussage gegen Aussage. Gerichte neigen in solchen Situationen dazu, den Polizeibeamten und -beamtinnen zu glauben, deren Aussagen auch häufig nicht voneinander abweichen. Der Vorwurf gegen die Beamten wird sich ohne die Bilder von der Vorgeschichte daher kaum nachweisen lassen. Insgesamt keine schöne Situation für den Betroffenen, aber auch nicht für seinen Verteidiger. Ich hoffe, das Gericht findet wenigstens passende Worte zum wundersamen Verschwinden eines wichtigen Beweismittels.

Bericht in der Frankfurter Rundschau

RA Dr. André Bohn

Vier Jahre statt lebenslänglich

Im Fall des tödlichen Autorennens von Moers bekommt der Hauptangeklagte eine deutlich niedrigere Freiheitsstrafe. Statt dem ursprünglichen Mordurteil (lebenslänglich) sind es nun vier Jahre Freiheitsstrafe. Die Neuverhandlung war notwendig geworden, weil der Bundesgerichtshof die erste Entscheidung aufhob.

Der 22-Jährige war am Ostermontag 2019 mit bis zu 167 Stundenkilometern durch ein Wohngebiet in Moers gefahren. Und zwar mit einem 600 PS starken Auto. Er soll sich mit einem anderen Autofahrer ein Rennen geliefert haben. Als eine unbeteiligte Frau mit ihrem Kleinwagen aus einer Seitenstraße kam, konnte er nicht mehr bremsen. Die Frau erlitt beim Zusammenstoß tödliche Hirnschäden.

Der Angeklagte hatte sich damit verteidigt, er sei auf einer gut einsehbaren Vorfahrtsstraße unterwegs gewesen. Deshalb habe er darauf vertraut, dass es nicht zu einem Unfall kommt. Diese Angabe, die gegen einen Tötungsvorsatz sprechen könnte, hätte laut dem Bundesgerichtshof stärker berücksichtigt werden müssen. Dem ist das Landgericht Kleve nun in der Neuauflage des Prozesses nun gerecht geworden.

Das letzte Wort ist allerdings noch nicht gesprochen. Nun geht die Staatsanwaltschaft in Revision. Das Urteil gegen den anderen Beteiligten am Autorennen ist mittlerweile rechtskräftig. Er bekam drei Jahre und neun Monate Haft.

Niedersachsen muss Prostitution wieder erlauben

In Niedersachsen ist ab sofort Prostitution wieder erlaubt – unter den Hygieneregeln, die auch für andere körpernahe Dienstleistungen gelten. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg setzt auf Antrag eines Bordellbetreibers das Prostitutionsverbot außer Kraft.

Die Richter sehen insbesondere den Gleichheitsgrundsatz verletzt. Es gebe keine nachvollziehbaren Gründe, andere körpernahe Dienstleistungen weitgehend zu ermöglichen, die Prostitution aber weiter komplett zu untersagen. Ein Totalverbot sei angesichts sinkender Infektionszahlen auch „offensichtlich nicht mehr erforderlich“.

Das Gericht erinnert mit dieser Entscheidung daran, dass Prostitution ein legaler Beruf ist. Die Branchenverbände äußern ja schon seit geraumer Zeit den Verdacht, dass die Corona-Pandemie im Bereich der Prostitution dazu dienen könnte, zu alten Moralvorstellungen zurückzukehren (Aktenzeichen 13 MN 298/21).