Richter oder Stempelbeamter?

Die Verhaftung des bekannten Fernsehjournalisten Achmed Mansur (Al Dschasira) auf dem Berliner Flughafen wirft Fragen auf. Die deutsche Justiz sperrt Mansur ein, weil Ägypten ein entsprechendes Ersuchen nach Deutschland geschickt hat. Ägypten gehört seit jeher nicht zu den Nationen, denen man übertriebene Rechtsstaatlichkeit nachsagen kann. Das ist heute immer noch so. Oder schon wieder. Hier muss die deutsche Justiz aufpassen, dass sie nicht instrumentalisiert wird.

„Die Fernsteuerung deutscher Amtsgerichte durch die ägyptische Regierung“ befürchtet deswegen auch Jurist Oliver Garcia in einem sehr informativen Blogeintrag. Garcia weist zutreffend darauf hin, dass der Rechtsschutz bei ausländischen Auslieferungsgesuchen nicht sonderlich ausgeprägt ist.

So sind deutsche Richter, denen der Festgenommene vorgeführt wird, nach bisherigem Verständnis darauf beschränkt, die Identität des Betroffenen zu überprüfen. Was an dem Ersuchen dran ist, sollen sie nicht untersuchen dürfen. Dass dies nicht sein kann und ein Richter mehr ist als ein Stempelbeamter, hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2010 ausdrücklich festgestellt. Eine Bereitschaft, sich hieran zu halten, ist allerdings kaum festzustellen. Schon gar nicht bei weniger prominenten Menschen, die bei uns jeden Tag aus dem Transit ins Gefängnis wandern.

Statt jedoch wenigstens hier ebenso pflichtgemäß wie mutig zu handeln, schickte das Amtsgericht Tiergarten Mansur in den vorläufigen Gewahrsam. Dort wird er jetzt voraussichtlich eine zermürbende Zeit verbringen, bis über das Ersuchen Ägyptens entschieden ist. Das kann Wochen, ja Monate dauern. Eine Zeit, in der sein Freiheitsanspruch jedenfalls nichts mehr gilt, was letztlich auch das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland nicht unbedingt befördern wird. Außer vielleicht bei der ägyptischen Führung.

Was hätte stattdessen passieren müssen? Garcia:

Die Festhaltung des Journalisten ist evident rechtswidrig. Auf die – im hier vorliegenden vertragslosen Auslieferungsverkehr anwendbare – Vorschrift des § 10 Abs. 2 IRG, die eine Prüfung des Tatverdachts durch die deutschen Gerichte ermöglicht, kommt es dabei nicht einmal an. Entscheidend ist vielmehr, daß ein Journalist wie Achmed Mansur im ägyptischen Justizhexenkessel von vornherein kein faires Verfahren erwarten kann (§ 6 Abs. 2 IRG). Zu dieser Erkenntnis kann jeder Amtsrichter nach Sichtung der Nachrichtenlage (einschließlich der Berichte der internationalen Organisationen) in kurzer Frist gelangen.

Verderbliche E-Books

Der Jugendschutz in Deutschland könnte – jedenfalls auf dem Papier – bald dazu führen, dass man deftigere E-Books künftig nur noch zwischen 22 und 6 Uhr herunterladen kann. Jedenfalls gibt es derzeit ein Verfahren wegen des Transgender-Romans „Schlauchgelüste“. Bei diesem pochen die Behörden darauf, dass das E-Book tagsüber nicht angeboten wird, berichtet das Branchenmagazin „Börsenblatt“.

Für online verkaufte E-Books gilt, wie für alle Telemedien, der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Dieser sieht vor, dass jugendgefährdende Inhalte nur zwischen 22 und 6 Uhr frei zugänglich sein dürfen. Gerade bei E-Books klingt das besonders absurd. Wahrscheinlich würden viele Eltern vieles drum geben, dass ihre Kinder überhaupt mal wieder was lesen. Aber der Buchhandel nimmt das Problem notgedrungen ernst.

Der Justiziar des Verbandes verhandelt laut Börsenblatt derzeit mit den Behörden, um eine Lösung zu finden. Zum einen soll geklärt werden, welche Prüfpflichten Verlage bei E-Books überhaupt haben. Zum anderen gibt es den Gedanken, die Sortimente mit geeigneter Software abzusichern, etwa mit Hilfe der bislang kaum verbreiteten und umstrittenen Jugendschutzprogramme.

So praktizierter Jugendschutz verspricht natürlich einen großartigen Erfolg. Die gestrengen „Sendezeiten“ werden ja schon länger gerade bei erotisch angehauchten Bewegtbildern durchgesetzt. Sofern der Anbieter seinen Sitz in Deutschland hat. Wie gut, dass niemand auf die Idee kommt, die Inhalte ganz einfach im Ausland ins Netz zu speisen, wo vielleicht andere Gesetze gelten. Oder möglicherweise auch nur die Uhren anders ticken.

Milderes Urteil für „MisterX“

Der Bundesgerichtshof hat das Urteil gegen den Hoeneß-Erpresser aufgehoben. Der Mann hatte Uli Hoeneß vor dessen Haftantritt unter Druck gesetzt, indem er diesem „verschärfte Haftbedingungen“ androhte, sollte er nicht 215.000 Euro erhalten.

Interessant ist vor allem die Begründung, mit welcher das Urteil wegen versuchter Erpressung aufgehoben wird. Das Landgericht München II hatte nämlich einige strafschärfende Aspekte aufgeführt, die bei näherer Betrachtung eigentlich keine sind. Beziehungsweise sein dürfen.

Die „erhebliche krimineller Energie“ des Täters erkannte die Strafkammer unter anderem in folgenden Punkten:

– Der Angeklagte hatte die Datei mit dem Erpresserschreiben bewusst nicht auf seinem Computer abgespeichert (aktiv gelöscht hat er die Datei aber auch nicht);

– er hatte Handschuhe getragen und seine Finger mit einem Geschirrtuch umwickelt, um Fingerabdrücke zu vermeiden;

– im Erpresserschreiben hatte der Angeklagte sich nur „MisterX“ genannt.

Sicher nicht schön, aber sind diese Verhaltensweisen wirklich strafschärfend? Anders gefragt: Darf von einem Erpresser wirklich verlangt werden, dass er sich mit seinem echten Namen vorstellt, um im Entdeckungsfall noch eine „normale“ Strafe zu erhalten? Der Bundesgerichtshof:

Dem Angeklagten darf nicht straferschwerend zur Last gelegt werden, er habe den Ermittlungsbehörden seine Überführung nicht erleichtert, indem er keine auf ihn hindeutenden Hinweise geschaffen habe. Dies wäre aber der Fall, wenn man einem Erpresser anlastet, er trete nicht unter seinem Namen, sondern anonym auf, und er habe ein Erpresserschreiben nicht abgespeichert, sondern ohne Speicherung auf seinem Computer erstellt.

Auch wenn das Ganze in diesem Fall vielleicht besonders bizarr ist, kommen solche Fehler in vielen Urteilen vor. Ich habe mal einen Räuber verteidigt, der den Weg zur Wohnung des Opfers nicht kannte. Deshalb hielt er an einer Tankstelle an und kaufte sich einen Stadtplan von Recklinghausen. Auch das wurde als strafschärfend gewertet – warum auch immer. Auch dieser Fall erlebte eine Neuauflage. Ähnlich ist es jetzt bei der Hoeneß-Erpressung; der Fall wird ans Landgericht München II zu erneuter Verhandlung zurückverwiesen (Aktenzeichen 1 StR 200/15).

Das De legibus Blog zur Vorgeschichte

Bundestag unterliegt vor Gericht

Juristischer Erfolg für das Portal abgeordnetenwatch.de: Der Deutsche Bundestag muss offenlegen, welchen Lobbyorganisationen er einen Hausausweis für das Parlament ausstellt. Mit diesem Ausweis haben die Lobbyisten weitgehend ungehinderten Zugang zum Bundestag, der Normalsterblichen versagt bleibt.

Abgeordnetenwatch.de hatte sich auf das Informationsfreiheitsgesetz berufen. Die Bundestagsverwaltung lehnte den Antrag jedoch ab, so dass nun das Verwaltungsgericht Berlin entscheiden musste. Dabei geht die Fragestellung deutlich über den Einzelfall hinaus. Der Bundestag blockt nach Angaben von abgeordnetenwatch.de nämlich gerne Anfragen mit der Begründung ab, das Informationsfreiheitsgesetz sei gar nicht anwendbar. Denn es gehe nicht um die Verwaltung, sondern um besonders geschützte parlamentarische Tätigkeit.

Dieser Ansicht erteilte das Verwaltungsgericht jedoch eine Absage. „Mit dieser Einstellung würde so gut wie alles im Zusammenhang mit dem Bundestag aus dem Informationsfreiheitsgesetz herausfallen“, wird die Gerichtsvorsitzende zitiert. Schließlich habe alles in irgendeiner Form mit der Tätigkeit der Abgeordneten zu tun. Den Kernbereich der Abgeordnetentätigkeit, der besonders geschützt sei, sieht das Gericht aber bei der Lobbyistenliste jedenfalls nicht berührt.

Sicherheitsbedenken bezüglich der Lobbyisten, die von den Anwälten des Bundestages vorgebracht wurden, konnte das Gericht nicht nachvollziehen. Dass ein Hausausweis für eine bestimmte Organisation ausgestellt sei, sage ja nichts darüber aus, auf welche konkreten Personen er laute.

Abgeordnetenwatch.de feiert das Urteil als deutliche Stärkung der Informationsfreiheit. Gerade die Parteien der Großen Koalition hätten sich im Vorfeld massiv geweigert, ihre Lobbykontakte transparent zu machen. Ob das Urteil Bestand hat, ist allerdings noch nicht klar. Der Bundestag kündigte nach Presseberichten bereits an, es werde Berufung eingelegt (Aktenzeichen VG 2 K 176.14).

GEMA fliegt aus dem Wartezimmer

Die GEMA kann keine Gebühren verlangen, wenn ein Arzt in seinem Wartezimmer Radiomusik im Hintergrund abspielt. Das hat der Bundesgterichtshof gestern entschieden.

Der Europäische Gerichtshof hat in einem Grundsatzurteil festgelegt, dass Urheberrechtsabgaben nur dann anfallen, wenn eine unbestimmte Zahl potentieller Adressaten und gleichzeitig „recht viele“ Personen den Hörgenuss haben. Das sei bei einer normalen Arztpraxis aber gerade nicht der Fall.

Der Bundesgerichtshof wendet die Europa-Rechtsprechung nun auch auf das deutsche Urheberrecht an mit der Folge, dass die GEMA bei vielen Freiberuflern künftig in die Röhre schaut (Aktenzeichen I ZR 14/14).

Eigene Rauchmelder reichen nicht

Mieter müssen es akzeptieren, wenn der Vermieter die Wohnung mit Rauchmeldern ausstatten will. Das gilt auch dann, wenn die Mieter bereits eigene Rauchmelder installiert haben.

Die Mieter müssen den Einbau der vom Vermieter gestellten Rauchmelder dulden, entschied der Bundesgerichtshof. Die Rauchmelder seien eine wertsteigernde Maßnahme. Solche Arbeiten müssen Mieter regelmäßig hinnehmen. Außerdem steige die Sicherheit im Gebäude, wenn die Rauchmelder zentral angeschafft und auch von einer Fachfirma des Vermieters gewartet werden.

Faktisch bedeutet das natürlich auch, dass vom Vermieter geschickte Techniker zu den Wartungsintervallen immer die Wohnung des Mieters betreten und sich in allen Räumen umsehen können (Aktenzeichen VIII ZR 290/14).

Die letzte Überweisung

Nach einer Kontoauflösung darf eine Bank keine Gebühr verlangen, wenn sie das Restguthaben des Kunden auf dessen neue Bankverbindung überweist. Eine Sparkasse in Thüringen wollte dafür 10,24 Euro berechnen.

Die ordnungsgemäße Abwicklung einer Bankverbindung sei Pflicht jedes Kreditinstituts, urteilt das Thüringer Oberlandesgericht. Dazu gehöre, das Guthaben kostenfrei auf das neue Konto des Kunden zu übertragen. Auf eine Barauszahlung muss der Kunde sich laut dem Gericht nicht verweisen lassen. Diese sei unüblich und für den Kunden unzumutbar.

Geklagt hatte der Verbraucherzentrale Bundesverband (Aktenzeichen 1 U 541/14).

Richter dürfen nicht simsen

Das Smartphone ist für Strafrichter tabu – jedenfalls während der Verhandlung. Der Bundesgerichtshof stellte jetzt klar, dass Richter während der Verhandlung keine privaten SMS schreiben oder gar Telefonate annehmen dürfen.

Vor dem Landgericht Frankfurt lief gegen zwei Angeklagte der Prozess wegen gefährlicher Körperverletzung. Während einer Zeugenvernehmung schrieb die beisitzende Richterin private SMS, um ihre Kinderbetreuung zu organisieren. Das hält der Bundesgerichtshof für ein Verhalten, welches nicht mehr von der richterlichen Freiheit gedeckt ist.

Wenn ein Richter während der Sitzung simse, zeigt er laut dem 2. Strafsenat, dass er seine privaten Interessen über seine Dientspflicht stellt. Laut der Urteilsbegründung des Vorsitzenden Thomas Fischer wird eine Grenze überschritten, wenn Richter mit dem Smartphone in „private Außenkontakte“ treten, statt ihre ganze Aufmerksamkeit der Hauptverhandlung zu widmen.

Das Landgericht Frankfurt hatte das Verhalten der Richterin noch akzeptiert. Sie sei durch die SMS ja nicht übermäßig in ihrer Aufmerksamkeit eingeschränkt gewesen (Aktenzeichen 2 StR 228/14).

Durchwahlen gibt’s nicht

Auch Kunden des Jobcenters haben keinen Anspruch darauf, eine Liste mit Durchwahlen aller Mitarbeiter des Jobcenters zu erhalten. Hierauf hatte ein Sozialleistungsbezieher geklagt. Er scheiterte jetzt aber vor dem Oberverwaltungsgericht Münster.

Der Kläger berief sich auf das Informationsfrei­heitsgesetz und verlangte, ihm die aktuelle Diensttelefonliste mit den Durch­wahlnummern aller 1.300 Sachbearbeiter in Köln zur Verfügung zu stellen. In erster Instanz blieb er erfolglos, ebenso jetzt vor dem Oberverwaltungsgericht.

In der mündlichen Urteilsbegründung hat der Vorsitzende Richter ausgeführt, dass das In­formationsfreiheitsgesetz (IFG) keinen allgemeinen Anspruch auf Bekanntgabe der Durch­wahlnummern aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jobcenters begründe. Der Anspruch sei nach § 3 Nr. 2 IFG ausgeschlossen.

Zu dem Ausnahmetatbestand zähle auch die Funktionsfähigkeit der staatlichen Einrichtungen. Die Organisationsentscheidung des Jobcenters, die telefonische Erreichbarkeit nicht durch die eigenen Sachbearbeiter, sondern durch ein speziell dafür zuständiges Service-Center der Bundesagentur für Arbeit zu gewährleisten, diene einer effektiven Organisation der Arbeitsabläufe.

Dadurch solle sichergestellt werden, dass die Sachbearbeiter des Beklagten ihre Arbeitskraft und -zeit ganz in den Dienst der Leistungsbearbeitung und persönlicher Beratungsge­spräche stellen können, ohne dabei ständig Anrufe durch gestört zu werden. Zudem werde das Problem vermieden, dass der persönlich anwesende Kunde das Telefonat mithören könne oder wegen des Datenschutzes den Beratungsraum verlassen müsse.

Da es ein Callcenter als Anlaufstelle gebe, müsse sich der Kläger auf diese Kontaktmöglichkeit verweisen lassen. Die Revision wurde zugelassen (Aktenzeichen 8 A 2429/14).

Nicht das Ende des Internets

Ja, heute hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Urteil zu der Frage verkündet, ob Webseitenbetreiber für beleidigenden Kommentare haften, die Nutzer auf die Seite eingestellt haben. Allerdings ist die Entscheidung weder das Ende der Meinungsfreiheit noch des Internets. Auch wenn so manche Berichte dies glauben machen.

Im Kern ging es um die Frage, ob ein Newsportal Schadensersatz an jemanden leisten muss, der sich zu Recht durch Beiträge von Kommentatoren auf der Webseite beleidigt fühlt. Wichtig ist zunächst zu wissen, dass nicht der Beleidigte vor dem EGMR geklagt hat, sondern das estländische Nachrichtenportal. Das Portal wehrte sich nämlich dagegen, dass es von einem estländischen Gericht dazu verurteilt worden war, an das „Opfer“ der beleidigenden Kommentare 320 Euro zu zahlen. Dies empfand das Portal als Einschränkung seiner Meinungsfreiheit.

Es ging also gerade nicht um die Frage, ob jetzt europaweit alle Seitenbetreiber verpflichtet sind, für jede Beleidigung auf ihren Portalen Schadensersatz zu zahlen. Sondern es ging lediglich um die Frage, ob das Urteil des estländischen Gerichts, das das Portal in diesem Einzelfall auf Grund der estländischen Gesetze verurteilte, die Rechte des Portals verletzt hat.

Genau das ist nach Auffassung des EGMR aber nicht der Fall. Gerade in den wesentlichen Punkten bringt die Entscheidung eigentlich nichts, was sich unmittelbar auf die Rechtslage in Deutschland auswirken könnte. Zahlen musste das Portal nämlich, weil es sich sechs Wochen Zeit gelassen hat, bis es den beleidigenden Kommentar entfernte. Zwar hatte es keine Beschwerde gegeben, aber der EGMR hält die Bewertung des estländischen Gerichts für zutreffend, wonach es sich bei dem Kommentar um „hate speech“ und Aufrufe zu Gewalt handelte.

Wir reden also über einen Inhalt, der nach deutscher Rechtslage „offensichtlich rechtswidrig“ gewesen sein dürfte. Derartige Kommentare müssen durchaus auch bei uns mit einer gewissen Priorität entfernt werden.

Problematisch an der Entscheidung ist aber sicherlich, dass der EGMR nicht unbedingt eine Beschwerde des Betroffenen für erforderlich hält, ab welcher für den Webseitenbetreiber die Uhr für die Entfernung des Kommentars zu ticken beginnt. Allerdings bedeutet die Entscheidung nur, dass dieser Mechanismus vom estländischen Gericht ohne Verstoß gegen europäische Grundrechte für verzichtbar angesehen wurde.

Man darf aber nicht den Schluss ziehen, dass es nun zum Beispiel zwingend auch deutsche Gerichte von ihrer Rechtsprechung abweichen müssen, wonach der Forenbetreiber bei uns normalerweise nur nach einer Beanstandung des Betroffenen haftet, wenn er nicht in angemessener Zeit reagiert.

Aus dem Urteil des EGMR ergibt sich überdies, dass die Entscheidung ausdrücklich nur für große, professionelle Nachrichtenportale gilt, die über entsprechende Redaktionen verfügen. Eine Aussage über die Haftung kleiner Forenbetreiber oder Blogger ist damit nicht getroffen.

Im übrigen dürfte sich das finanzielle Risiko ohnehin in Grenzen halten. Den Schadensersatz von 320 Euro hält der EGMR für gerade noch angemessen, weil der Betreiber der Seite ein großer gewerblicher Anbieter ist. Mit dem Betrag sei die Firma noch nicht übermäßig belastet. Dies bedeutet aber im Umkehrschluss, dass die denkbare Haftung etwa eines Freizeitbloggers oder Forenbetreibers sehr weit unter diesem Betrag liegen müsste (Aktenzeichen ECHR 205 (2015)).

Die Meinung meines Kollegen Thomas Stadler

Automatische Vorschaubilder

Für eine Verurteilung wegen des Besitzes von Kinderpornografie reicht es nicht ohne weiteres aus, wenn lediglich im Thumbnail-Ordner des Betriebssystems verbotene Bilddateien gefunden werden. Dies hat das Oberlandesgericht Düsseldorf entschieden.

Das Gericht weist darauf hin, dass die Dateien im Vorschauordner automatisch abgelegt werden. Deshalb spreche nicht unbedingt eine Vermutung dafür, dass sich der Besitzwille ( = Vorsatz) des Täters auf diese Bilder richtet.

In dem Beschluss beweisen die Richter vertiefte Sachkenntnisse, die man leider nicht bei jedem Gericht antrifft. So heißt es:

Durch Internetrecherche ist leicht feststellbar und damit allgemeinkundig, dass die Vorschaubilder von dem hier verwendeten Betriebssystem Windows XP in der Standardeinstellung automatisch erzeugt werden, wenn gespeicherte Bilddateien erstmals in der Miniaturansicht aufgerufen werden.

In den betreffenden Ordnern wird dazu jeweils die Datei thumbs.db generiert. Hierbei handelt es sich um versteckte Systemdateien, die in der Standardeinstellung nicht im Windows-Explorer angezeigt werden. Werden die originären Bilddateien (jpeg-Format) gelöscht, bleibt die Datei thumbs.db, in der die Vorschaubilder gespeichert sind, in dem jeweiligen Ordner gleichwohl erhalten.

Die Kenntnis dieser computertechnischen Abläufe setzt ein weit überdurchschnittliches Computerwissen voraus.

Es ist also nicht ohne weiteres möglich, jemanden den „Besitz“ an Vorschaubildern zur Last zu legen. Eine Sicht der Dinge, die gerade von vielen Amtsgerichten (bislang) nicht geteilt wird.

Die Thumbnails, so das Oberlandesgericht, seien lediglich ein starkes Indiz dafür, dass sich der Beschuldigte die entsprechenden Originale heruntergeladen und abgespeichert hatte. Hier müsse allerdings festgestellt werden, wann die Thumbnails erzeugt wurden. Das sei wichtig, weil die ja nur noch nachweisbare Besitzverschaffung möglicherweise länger zurückliegen und damit verjährt sein könnte (Aktenzeichen III-2 RVs 36/15).

Urteil im Tugce-Prozess

Das Landgericht Darmstadt hat in dem Verfahren wegen des Todes der Studentin Tugce A. ein Urteil gesprochen. Der Angeklagte Sanel M. wurde heute wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.

Da die Strafe über zwei Jahren liegt, kann sie nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden. Das Gericht wandte Jugendstrafrecht an.

Sanel M. hatte zugegeben, die Studentin heftig geschlagen zu haben. Tugce prallte auf den Boden und verstarb später. Vorangegangen waren wohl wechselseitige Provokationen und Beleidigungen.

Der Staatsanwalt hatte in seinem Plädoyer gesagt, Sanel sei weder ausschließlich ein aggressiver „Koma-Schläger“ noch sei Tugce eine „nationale Heldin für Zivilcourage“.

Aus für das Kontaktsperregesetz?

Der Bundesminister der Justiz widmet seine Aufmerksamkeit derzeit einem wirklich interessanten Gesetzesvorhaben. Ausnahmsweise sollen die Bürgerrechte mal nicht eingeschränkt, sondern ganz eindeutig gestärkt werden. Allerdings nicht für sonderlich viele Betroffene. Es geht um das Kontaktsperregesetz.

Das Kontaktsperregesetz stammt aus der Zeit der Rote Armee Fraktion (RAF). Mit den Vorschriften sollte verhindert werden, dass Terrorverdächtige über ihre Anwälte oder andere Personen, mit denen sie auch als Gefangene Kontakt haben, vom Gefängnis aus Komplizen steuern. Die Vorschriften bieten einen ganzen Katalog von Maßnahmen. Diese führen faktisch dazu, dass Beschuldigte mit überhaupt niemandem mehr kommunizieren können, eingeschlossen ihre Verteidiger. Darüber hinaus werden strafprozessuale Rechte, zum Beispiel bei Vernehmungen und Haftprüfungen, nahe gegen Null geschraubt.

Nach einem Bericht der Welt folgt der Vorschlag zur Abschaffung des Kontaktsperregesetzes weniger später Einsicht, sondern eher der Erkenntnis, dass die Norm vor allem mit dem EU-Recht nicht mehr vereinbar ist. Insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte würde wohl deutliche Worte finden, wenn das Kontaktsperregesetz wieder angewendet werden würde. Was seit RAF-Zeiten allerdings ohnehin nicht mehr geschehen ist.

Mein Fehler, dein Fehler

Heute habe ich mich vor Gericht bemüht, die Strafe eines Mandanten zu reduzieren. Neben vielen anderen Punkten wies ich darauf hin, dass das Verfahren mit knapp drei Jahren bislang ziemlich lange gedauert hat.

An sich hätte die Verhandlung locker nach einem Jahr stattfinden können. Da lagen die Ermittlungsergebnisse nämlich auf dem Tisch. Aber schon die Anklage ließ Monate auf sich warten. Als die Anklage da war, tat sich nichts bei Gericht – bis wir dann nach drei Jahren nun mal einen Termin bekamen.

Das könnte man recht problemlos unter folgenden Begriff packen: „rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung“. Die Sache hat allerdings einen Schönheitsfehler. Auch in meinem Büro war was schiefgelaufen. Anscheinend habe ich den Eingang der Anklage, die uns zur Stellungnahme zugesandt wurde, nicht ordnungsgemäß bestätigt. Normalerweise muss man da ein schriftliches Empfangsbekenntnis zurücksenden – was aus einem mir unbekannten Grund nicht geschehen zu sein scheint. Ein bedauerlicher Einzelfall, möchte ich betonen.

Aufgefallen ist mein Versäumnis erst, als das Gericht an die Rücksendung des Empfangsbekenntnisses erinnerte. Diese Nachfrage kam nach stolzen viereinhalb Monaten. So lange war also bei Gericht nicht aufgefallen, dass das Empfangsbekenntnis fehlt. Oder es hat sich niemand drum gekümmert.

Die Frau Staatsanwältin stellte sich in ihrem Plädoyer auf den Standpunkt, der rund viermonatige Stillstand wegen des fehlenden Empfangsbekenntnisses dürfe nicht der Justiz angelastet werden. Sondern ausschließlich mir als Verteidiger. Und damit dem Angeklagten (obwohl es eine ziemlich schwierige Frage ist, ob Angeklagte überhaupt für Fehler ihres Anwaltes haften müssen).

Ich dagegen erlaubte mir den Hinweis, dass in jedem Büro mal was schiefläuft. Überdies sei es ja wohl zu erwarten, dass nach angemessener Zeit kontrolliert wird, ob der Anwalt die erforderlichen Unterlagen eingereicht hat. Viereinhalb Monate bis zur Nachfrage seien da ja wohl doch etwas lang. Was im übrigen auch dafür spreche, dass in der Zeit wahrscheinlich ohnehin nichts passiert wäre.

Die Richterin löste die Sache salomonisch. „Die Sache hat ziemlich lange gedauert“, befand sie in der Urteilsbegründung. „Das habe ich bei meiner Entscheidung berücksichtigt.“ Vom Ergebnis her konnte mein Mandant sich nicht beschweren. Wir landeten bei der Strafe im unteren Drittel dessen, was wir uns erhofft hatten. Es war also jedenfalls kein Fehler, die Verfahrensdauer zu thematisieren, obwohl es ja zwangsläufig etwas peinlich werden musste.

Heftiger Dämpfer für unseriöse Ermittler

Für unseriöse Polizisten brechen unangenehme Zeiten an. Jedenfalls was die sogenannte Tatprovokation angeht. Das sind Fälle, in denen der Beschuldigte eine Tat gar nicht begangen hätte, wäre er nicht gezielt durch Verdeckte Ermittler angefüttert oder gar direkt unter Druck gesetzt worden. Der Bundesgerichtshof hat mit einem aktuellen Urteil seine Rechtsprechung zu dem Thema revolutioniert.

Bisher führte die Tatprovokation nur zu einer milderen Strafe. Ab sofort dürfte am Ende in der Regel die folgenlose Einstellung des Verfahrens stehen.

Der jetzt entschiedene Fall bot sich auch geradezu an, von einer Bestrafung des Täters abzusehen. Verdeckte Ermittler hatten zwei Männer über einen längeren Zeitraum immer wieder aufgefordert, für sie große Mengen Ecstasy in Holland zu besorgen. Erfolglos. Schließlich griffen die Polizisten zu Drohungen. Außerdem behauptete einer, seine Familie werde mit dem Tode bedroht, wenn er seinen Hinterleuten nicht Rauschgift besorge. Erst da knickten die Betroffenen ein.

Die zwei Polizeiopfer konnten vor Gericht lediglich eine Strafmilderung erkämpfen. Doch das reicht nicht mehr aus, sagt der Bundesgerichtshof. Das Gericht legt als Regellösung für solche Fälle ausdrücklich die Einstellung des Verfahrens fest.

Die Änderung basiert auf klaren Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser hat die Bundesrepublik letztes Jahr in einem ähnlichen Fall verurteilt, weil am Ende des Verfahrens lediglich eine Strafmilderung erfolgte. Das möchte der Bundesgerichtshof künftig vermeiden. Die Richter erkennen es ausdrücklich als ihre Aufgabe an, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Deutschland umzusetzen.

Solche Urteile machen mir persönlich Hoffnung. Vielleicht kommt ja auch der Tag, an dem sich auch bei rechtswidrig erlangten Beweisen die Einsicht durchsetzt, dass ein Verwertungsverbot der Regelfall sein sollte. Und nicht, wie derzeit bei uns, die Ausnahme. Ebenso wie die Tatprovokation ist es ein Unding, dass Ermittler sehenden Auges die Strafprozessordnung missachten können, ohne dass dies spürbare Folgen hat (Aktenzeichen 2 StR 97/14).