Die Medien sind heute voller Wehklagen. Nehmen wir als Beispiel t-online:
„Die Einstellung des Verfahrens gegen Rammstein-Sänger Lindemann war erwartbar. Der Fall legt erneut die Fehler beim Umgang mit Sexualstraftaten in Deutschland offen.“
Dann wird die angeblich zu schnelle Einstellung des Verfahrens beklagt. Die Staatsanwaltschaft habe „den Fall, in dem mehrere Monate oder sogar Jahre hätte ermittelt werden können, zu den Akten gelegt“.
Wie bitte? Soll das etwa andeuten, die Sache hätte schon deswegen länger dauern müssen, weil schon die Jahre und Monate des laufenden Verfahrens Lindemann und seine Band zermürben und zugrunde richten werden? Was für ein groteskes Verständnis. Jeder hat das Recht auf ein zügiges Verfahren. Das steht in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Extra für t-online: Das ist so was wie das Europäische Grundgesetz.
Oder ist die offenkundige Lust auf ein jahrelanges Verfahren auch darin begründet, dass dann regelmäßig eine schöne Schlagzeile abfällt? Der Fall Lindemann als Klick- und Auflagengarant. Ganz uneigennützig klingt das alles jedenfalls nicht angesichts des medialen Sperrfeuers, dem Lindemann ausgesetzt war. Die Jagd nach Schlagzeilen ist in letzter Zeit zwar etwas abgeebtt. Aber nicht aus Einsicht. Gerichte haben die übelsten Ausschläge auf der nach oben offenen Spekulationsskala mit einstweiligen Verfügungen gedämpft.
Unklar ist laut t-online auch, ob es weitere Ermittlungsansätze gegen Lindemann gab. Das ist nur unklar, wenn man die Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Berlin nicht liest. Oder sie liest und den Lesern trotzdem vorenthält, was drin steht. Nämlich, dass es keine weiteren Ermittlungsansätze gibt. Die Staatsanwälte haben die Akten der Vilnius-Sache angefordert. Sie haben sich redlich darum bemüht, an die mutmaßlich Geschädigten heranzukommen. Doch diese sind anonym. Die Medien, in denen die Betroffenen ihre Geschichte erzählt haben, berufen sich auf den gesetzlich verankerten Quellenschutz. Sogar die einzige namentlich bekannte Zeugin schaffte es laut den Behörden noch nicht mal, das Ergebnis ihres angeblich positiven Drogentests nach einem Rammstein-Konzert vorzulegen.
Die Staatsanwaltschaft ist mit ihrem Latein am Ende, so lange ihr keine der Zeuginnen die Hand reicht. Können Medien ernsthaft der Meinung sein, dass im Spiegel und anderswo auflagenträchtig kolportierte „Erfahrungen“ für eine Anklage ausreichen – bloß weil der Spiegel angibt, ihm lägen eidesstattliche Versicherungen vor?
Oder anders gesagt: Sollten die Redakteure aus dem Ressort Buntes & Cancel Culture sich noch ein Zusatzhonorar als (bessere) Polizisten verdienen dürfen? Sollen die Richter an einer Strafkammer des Landgerichts Lindemann sagen, es reicht allemal, was im Spiegel steht? Ab in den Knast. Oder wie es der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung dieser Tage in einer anderen Verdachtssache so schön schrieb: Darauf kommt es nicht mehr an, es ist alles schlimm genug.
So jedoch soll die Strafjustiz nicht funktionieren. So darf sie nicht funktionieren. Anscheinend ist den Autoren, die irgendwelche Defizite bei der Justiz beklagen, nicht ansatzweise klar, dass sie mit ihren Forderungen den Rechtsstaat beenden und die Bananenrepublik ausrufen. Das gilt auch für die in anderen Leitartikeln geäußerte Forderung, Lindemann schon deswegen als schuldig zu betrachten, weil mehrere Frauen über die Medien Vorwürfe erheben. Nach dem Motto: Wenn mehrere etwas sagen, dann muss was dran sein. Was für ein absurder Gedanke.
Selbst wenn eine bloße Masse von Anschuldigungen reichen würde, im Fall Lindemann wäre nicht einmal damit was zu erreichen. Die belastenden Berichte klingen zwar schrecklich, trotzdem erfüllen die Erzählungen keine Straftatbestände. Darauf weist die Staatsanwaltschaft ausführlich hin. Mit anderen Worten: Rockstar Lindemann ist womöglich ein unangenehmer Mensch. Dennoch gibt es keine Belege, dass er Frauen vergewaltigt oder sonst wie missbraucht hat. Maßstab hierfür ist nach derzeitigem Stand das Strafgesetz, nicht das moralische Empfinden in Redaktionsstuben.
Noch weiter: Die Staatsanwaltschaft weist darauf hin, dass etliche der Aussagen sich gar nicht auf eigenes Erleben beziehen. Vielmehr berichten Frauen über Dinge, die sie von Dritten gehört haben. Nämlich dass wiederum einer anderen Frau von Lindemann übel mitgespielt worden wäre. Aus Gerüchten und Geschichten gestrickte Wahrheiten können richtig sein. Müssen es aber nicht. Wer aus Hörensagen einen hinreichenden Tatverdacht konstruiert, schreibt die Unschuldsvermutung und damit den Rechtsstaat ab. Sorry, dass ich schon wieder Rechtsstaat schreibe.
Am Ende soll es, wenn ich die zahlreichen Kommentare richtig verstehe, in Sexualstrafsachen auf eine völlige Umkehr der Beweislast hinauslaufen. Dem Beschuldigten, so die Idee einer deutlichen Mehrheit unserer Meinungsredakteure, muss nicht die Tat nachgewiesen werden. Vielmehr gilt er als schuldig, sofern er sich nicht komplett entlasten kann. Falls das jemand an die Zeit der Hexenprozesse erinnert: Weit davon entfernt wäre nicht mehr. Und wer würde sich nicht in diese Zeit zurücksehnen?
Im übrigen mal ein ganz praktischer Hinweis. Man kann gar nicht beweisen, dass man etwas nicht gemacht hat. Sie müssen hinsichtlich dieser einfachen Wahrheit nicht mir als Juristen trauen. Fragen Sie einen Naturwissenschaftler. Er erklärt es ihnen gerne. Aus dem Stegreif.
Oh ja, wir können uns von der Unschuldsvermutung abwenden. Deutschland wäre dann der Hauptkunde des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Polen und Ungarn würden uns völlig zu Recht jedes Recht abstreiten, das dortige Demokratieverständnis auch nur ansatzweise zu kritisieren.
Die Einstellung des Verfahrens gegen Till Lindemann wird durchgehend als große Fehlleistung beweint. Ein Unglücksfall, der nicht wieder gut zu machen ist. Nicht einmal das ist richtig. Die Staatsanwaltschaft hat alle Beweismittel geprüft, die ihr zugänglich sind. Momentan. Sie hat sich darum bemüht, weitere Beweismittel zu bekommen. Erfolglos. Weitere Ermittlungsansätze gibt es derzeit nicht. Sie sind auch nicht absehbar.
In dieser Situation musste der Staatsanwalt prüfen, ob ein hinreichender Tatverdacht gegen Till Lindemann vorliegt. Das wäre der Fall, wenn die Verurteilungswahrscheinlichkeit bei mehr als 50 % liegt. Zugegeben, das ist eine schwammige Zahl. Aber auf sie kommt es nicht an. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lindemann ohne Beweise verurteilt werden würde, liegt bei unter 3 %. Dem Staatsanwalt blieb also gar nichts anderes übrig als das Verfahren einzustellen, und zwar mangels Tatverdachts. So wie es das Gesetz vorschreibt.
Was das mit der Einstellung bedeutet, hat die Staatsanwaltschaft Berlin auch erklärt. Ich wiederhole es gerne: So lange keine neuen Beweismittel vorliegen, bleibt das Verfahren eingestellt. Sollten neue taugliche Beweismittel auftauchen, die wiederum einen neuen Anfangsverdacht begründen, wird das Verfahren wieder aufgenommen. Das ist jederzeit möglich.
Somit haben es die mutmaßlich geschädigten Frauen in der Hand. Sie können mit den Ermittlern sprechen und werden Gehör finden. Es ist ihre freie Entscheidung, ob sie dies tun. Sie können sich sogar Zeit lassen. Die Vorwürfe gegen den Rammstein-Sänger verjähren erst in vielen Jahren.
Die hohe Zahl der Sexualstrafverfahren in Deutschland zeigt, dass viele Frauen mutiger sind als die Zeuginnen gegen Lindemann. Sicher bedarf es für eine Frau einiger Überwindung, sich einem Strafverfahren auszusetzen, und sei es nur als Zeugin. Aber das ist nun mal notwendig im Rechtsstaat (versprochen, ich verwende das Wort letztmalig in diesem Text).
Geschädigte, den Zusatz mutmaßlich können wir uns hier sparen, sind auch nicht ungeschützt. In den letzten 15 Jahren bestanden praktisch alle Änderungen des Strafgesetzbuches und der Strafprozessordung aus zwei Dingen: Schärfere Strafen und Ausbau des Opferschutzes. Es gibt heute psychosoziale Betreuung, das Recht auf Geheimhaltung von Meldedaten, ein erweitertes Recht auf Nebenklage. Und nicht zuletzt auf einen anwaltlichen Vertreter, den sogar der Staat bezahlt. Das ist nur ein Teil der Hilfsangebote.
Die Causa Lindemann muss also keineswegs dauerhaft abgeschlossen sein. Momentan ist sie es aber völlig zu Recht.