Das Bundesverfassungsgericht hat sich zur Encrochat-Problematik geäußert. Doch das letzte Wort ist damit nicht gesprochen.
Encrochat war eine Kommunikationsplattform. Sie versprach totale Abhörsicherheit für hohe Tarife. Anfang 2020 infiltrierten französische und niederländische Ermittler den Dienst – und lasen ein knappes halbes Jahr munter mit. Ihre Erkenntnisse teilten sie weltweit mit anderen Polizeibehörden. Auch in Deutschland gab es hunderte Verurteilungen zu meist hohen Haftstrafen.
Klingt erst mal nach normaler Polizeiarbeit. Allerdings weiß man bis heute nicht, wen die Franzosen und Niederländer aus welchem Grund abhören wollten. Oder haben sie sich tatsächlich zu einem Generalangriff auf die Plattform entschlossen, nach dem Motto: weil wir es können? Fakt ist jedenfalls, dass sich bei den mir bekannten Fällen der Anfangsverdacht überhaupt erst aus den Chatmitschnitten ergab, welche die Franzosen später ans Bundeskriminalamt schickten.
So eine Komplettinfiltration ist im Prinzip auch bei Telegram, Signal, Facebook, Twitter, Instagram und Twitch denkbar. Oder bei jeder anderen Plattform. Viele Millionen Menschen würden faktisch anlasslos durchleuchtet, ohne dass bis dahin etwas gegen sie vorliegt. Da darf einem schon mulmig werden.
Vor allem die federführenden Franzosen behandeln die Aktion als Staatsgeheimnis. Es ist noch nicht einmal genau bekannt, ob die Aktion als solche von einem Gericht abgesegnet wurde. Die deutschen Behörden kriegten nur die Rohdaten der Chats. Diese wurden bei uns mit enormen Aufwand aufbereitet. Die PDFs waren dann das „Beweismittel“. Friss oder stirb, bedeutete das in der Regel. Nachfragen zum Wie und Warum, zu möglichen Falschzuordnungen und anderen Fehlerquellen – unmöglich.
Der Bundesgerichtshof hat die Verurteilungen mit eher lapidarer Begründung gebilligt. Nun ist das Bundesverfassungsgericht gefragt. Die Betroffenen berufen sich auf ein unfaires Verfahren, die Missachtung der Unschuldsvermutung, die Missachtung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter und diverse andere Grund- und Verfahrensrechte.
Erste Verfassungsbeschwerde hat der 2. Senat des Verfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerden sollen unzulässig sein, und zwar aus einer Vielzahl verschiedener Gründe. Inhaltlich äußert sich Karlsruhe aber nicht zu den rechtlichen Problemen. Die Frage, ob die Verurteilten tatsächlich zu Recht in den Knast gegangen sind, ist also nach wie vor offen.
Fünf weitere Verfassungsbeschwerden zu Encrochat sind in Karlsruhe offen. Möglicherweise kommen auch noch Impulse von europäischer Ebene. Das Landgericht Berlin hat dem Europäischen Gerichtshof schon Fragen vorgelegt. Außerdem können Betroffene noch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.
Etliche Angeklagte sind aber faktisch außen vor. Sie haben Geständnisse abgelegt, meist weil ihnen eine mildere Strafe angeboten wurde. Ihre Verurteilung beruht also auf Encrochat und dem Geständnis. Da wird’s natürlich eng, selbst wenn die Encrochat-Geschichte vor Gericht doch noch eine rechtsstaatliche Aufarbeitung erfährt (Aktenzeichen 2 BvR 684/22 und andere).