Macht euch mit dem Aiwanger-Flugblatt nicht unglücklich

Habt ihr in sozialen Medien über den Fall #Aiwanger diskutiert? Gut. Habt ihr das fragliche Flugblatt in eure Tweets oder Posts eingebettet oder es verlinkt, wie das gang und gäbe ist? Suboptimal. Ich erkläre warum.

Das Flugblatt ist vor 35 Jahren geschrieben worden. Damals bestand der Volksverhetzungsparagraf aus zwei Absätzen. Die Verbreitung des Flugblatts wäre damals wohl nicht als Volksverhetzung strafbar gewesen. Sondern allenfalls als Beleidigung. Sagt zum Beispiel Ronen Steinke von der Süddeutschen Zeitung Er hat die Rechtslage analysiert. Wobei ich anmerken möchte, man kann sogar darüber diskutieren, ob das Verteilen des Flugblatts sogar komplett war. Denn das mit der Beleidigung ist nur über Umwege zu begründen.

Heute sieht es anders aus.

Der Volksverhetzungsparagraf acht mittlerweile Absätze. Ein neuer Absatz lautet:

„Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost.“

Ein weiterer Absatz lautet:

„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.“

Ein weiterer lautet:

„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
1. einen Inhalt (§ 11 Absatz 3) verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht oder einer Person unter achtzehn Jahren einen Inhalt (§ 11 Absatz 3) anbietet, überlässt oder zugänglich macht, der
a) zum Hass gegen eine in Absatz 1 Nummer 1 bezeichnete Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer in Absatz 1 Nummer 1 bezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung aufstachelt,
b) zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen in Buchstabe a genannte Personen oder Personenmehrheiten auffordert oder
c) die Menschenwürde von in Buchstabe a genannten Personen oder Personenmehrheiten dadurch angreift, dass diese beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden oder
2. einen in Nummer 1 Buchstabe a bis c bezeichneten Inhalt (§ 11 Absatz 3) herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, bewirbt oder es unternimmt, diesen ein- oder auszuführen, um ihn im Sinne der Nummer 1 zu verwenden oder einer anderen Person eine solche Verwendung zu ermöglichen.“

Dann schaut euch noch mal das Flugblatt an. Wenn man es als Verhöhnung jüdischer Opfer des Nationalsozialismus betrachtet, ist der Inhalt heute volksverhetzend. Wenn man es als menschenverachtend und aufpeitschend einstuft, dürfte es heute strafbare Hassrede sein. Lest euch nur die Buchstaben a) und b) im zuletzt zitierten Absatz durch. Man braucht keine große Juristenpower, um den Tatbestand zu bejahen. Um jemanden da rauszuhauen, schon.

Wer das Flugblatt auf Twitter, Facebook oder anderswo postet, macht es „öffentlich zugänglich“. Das ist nicht wegzudiskutieren.

Wer das Flugblatt online stellt, kann also eine Volksverhetzung nach heutigem Recht begehen. Was kann euch retten? Es ist möglicherweise die Vorschrift des § 86 Abs. 4 StGB, der entsprechend angewendet wird. Lest selbst:

„Die(s gilt) nicht, wenn die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.“

Klingt vernünftig dieses Privileg. Ich würde mich nur nicht darauf verlassen. Manche Freiheit, die sich zu ergeben scheint, ist womöglich keine für den normalen Facebook-User oder jemanden, der mal auf X seinen Senf dazu gibt:

– „Staatsbürgerliche Aufklärung“ ist nach weitverbreitetem Verständnis vorrangig Aufgabe von Presse, Rundfunk und politischen Parteien;

– die „Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen“ ist eine hehre Aufgabe. Diese erfüllt man offenkundig nicht dadurch, dass man das Flugblatt postet mit dem Kommentar: „Widerlich.“

– „Die Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens“ passt. Aber ist die Meinungsäußerung mit der Nr. 378.756 im Stream wirklich eine Berichterstattung? Kann man als Strafverfolger so sehen. Wenn man empathisch ist. Aber ich verrate euch ein Geheimnis: Nicht jeder Staatsanwalt ist empathisch. Und wenn ihr ins Internet postet, ist jeder Polizist zuständig, der eine Anzeige gegen euch auf den Tisch bekommt.

– Bleiben „Ähnliche Zwecke“: Juristen sehen ähnliche Zwecke als erfüllt, wenn die Intention des Handelnden ebenso lauter und ehrenhaft ist wie die von Presse, Rundfunk und Parteien. (Das ist eine Punchline, bitte grinsen.) Diese Definition ist ist allerdings nicht mehr als eine Tautologie. Darauf weist Thomas Fischer in seinem Strafrechtskommentar hin. Echte Präzedenzfälle? Fischer seufzt: „In Rechtsprechung und Literatur finden sich keine sinnvollen Beispiele.“

Ihr solltet nicht daran arbeiten, so ein Beispiel zu werden. Das kostet euch mehr als ein schöner Urlaub, es kostet euch Nerven und – möglicherweise eure soziale Existenz. In ein paar Tagen geht’s in der öffentlichen Debatte um was anderes. Einige Monate weiter weiß manch einer nicht mehr, um was es bei diesem Aiwanger genau ging. Am Ende bleibt aber immer ein ekliges Flugblatt, das du unbestreitbar ins Netz gestellt hast. Am Ende wirst du die Frage beantworten müssen, wieso das Pamphlet unbedingt noch mal in deiner Timeline auftauchen musste.

Ergebnis: Macht euch nicht unglücklich, nehmt das Flugblatt aus dem Netz.