Rachepornografie: Rekordschmerzensgeld von 120.000 Euro

Die spicy Videos hat sie zwar selbst gemacht, freiwillig zugeschickt hat sie diese ihrer Tinder-Bekanntschaft auch. Aber auf keinen Fall war eine Frau aus Nordrhein-Westfalen damit einverstanden, dass ihr virtuelles Bettgeflüster auf Pornoplattformen landet. Genau dorthin lud der vermeintliche Partner die Videos für die werte Allgemeinheit hoch.

Der Luxemburger schickte auf der einen Seite ölige WhatsApp-Nachrichten („Du!!! Liebe Dich…Forever…“). Und das, obwohl es nie einem persönlichen Treffen gekommen war. Er vergaß auch zu erwähnen, dass er Frau und Kinder hat.

Nach einiger Zeit ghostete der Mann seine Online-Freundin. Diese wurde skeptisch und fand die Videos auf Pornoplattformen. In den URLs war sogar ihr voller Name angegeben. Die Videos waren dann natürlich auch irgendwann im Google-Index. Die Ticker auf den Plattformen wiesen für die Videos bis zu 9.387 Abrufe auf.

Die Videos zeigten die Frau nicht nur nackt, sondern auch bei sexuellen Handlungen. Entsprechend schwer ist die Persönlichkeitsrechtsverletzung, so das Landgericht Düsseldorf. Es müsse auch berücksichtigt werden, dass der Beklagte wohlhabend ist. Er makelt in Luxemburg Luxusimmobilien. Am Ende kommt das Gericht auf ein Rekordschmerzensgeld von 120.000 Euro. In ähnlichen Fällen gingen die verhängten Schmerzensgelder bislang nicht über 25.000 Euro hinaus.

Wichtig an der Entscheidung ist nicht nur die Höhe des Schmerzensgeldes. Das Gericht betont nachdrücklich, das „Selbst schuld“-Argument ziehe nicht. Vielmehr dürfe jeder davon ausgehen, dass private erotische Nachrichten nicht an Dritte weitergegeben oder gar veröffentlicht werden. Das gelte auch bei bei oberflächlichen Online-Flirts.

Und noch eine gute Nachricht für Betroffene: Wer in Deutschland wohnt, darf in solchen Fällen auch in Deutschland klagen, so das Landgericht (Aktenzeichen 12 O 55/22).

Das Armutszeugnis ist euer Verständnis vom Rechtsstaat

Die Medien sind heute voller Wehklagen. Nehmen wir als Beispiel t-online:

„Die Einstellung des Verfahrens gegen Rammstein-Sänger Lindemann war erwartbar. Der Fall legt erneut die Fehler beim Umgang mit Sexualstraftaten in Deutschland offen.“

Dann wird die angeblich zu schnelle Einstellung des Verfahrens beklagt. Die Staatsanwaltschaft habe „den Fall, in dem mehrere Monate oder sogar Jahre hätte ermittelt werden können, zu den Akten gelegt“.

Wie bitte? Soll das etwa andeuten, die Sache hätte schon deswegen länger dauern müssen, weil schon die Jahre und Monate des laufenden Verfahrens Lindemann und seine Band zermürben und zugrunde richten werden? Was für ein groteskes Verständnis. Jeder hat das Recht auf ein zügiges Verfahren. Das steht in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Extra für t-online: Das ist so was wie das Europäische Grundgesetz.

Oder ist die offenkundige Lust auf ein jahrelanges Verfahren auch darin begründet, dass dann regelmäßig eine schöne Schlagzeile abfällt? Der Fall Lindemann als Klick- und Auflagengarant. Ganz uneigennützig klingt das alles jedenfalls nicht angesichts des medialen Sperrfeuers, dem Lindemann ausgesetzt war. Die Jagd nach Schlagzeilen ist in letzter Zeit zwar etwas abgeebtt. Aber nicht aus Einsicht. Gerichte haben die übelsten Ausschläge auf der nach oben offenen Spekulationsskala mit einstweiligen Verfügungen gedämpft.

Unklar ist laut t-online auch, ob es weitere Ermittlungsansätze gegen Lindemann gab. Das ist nur unklar, wenn man die Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Berlin nicht liest. Oder sie liest und den Lesern trotzdem vorenthält, was drin steht. Nämlich, dass es keine weiteren Ermittlungsansätze gibt. Die Staatsanwälte haben die Akten der Vilnius-Sache angefordert. Sie haben sich redlich darum bemüht, an die mutmaßlich Geschädigten heranzukommen. Doch diese sind anonym. Die Medien, in denen die Betroffenen ihre Geschichte erzählt haben, berufen sich auf den gesetzlich verankerten Quellenschutz. Sogar die einzige namentlich bekannte Zeugin schaffte es laut den Behörden noch nicht mal, das Ergebnis ihres angeblich positiven Drogentests nach einem Rammstein-Konzert vorzulegen.

Die Staatsanwaltschaft ist mit ihrem Latein am Ende, so lange ihr keine der Zeuginnen die Hand reicht. Können Medien ernsthaft der Meinung sein, dass im Spiegel und anderswo auflagenträchtig kolportierte „Erfahrungen“ für eine Anklage ausreichen – bloß weil der Spiegel angibt, ihm lägen eidesstattliche Versicherungen vor?

Oder anders gesagt: Sollten die Redakteure aus dem Ressort Buntes & Cancel Culture sich noch ein Zusatzhonorar als (bessere) Polizisten verdienen dürfen? Sollen die Richter an einer Strafkammer des Landgerichts Lindemann sagen, es reicht allemal, was im Spiegel steht? Ab in den Knast. Oder wie es der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung dieser Tage in einer anderen Verdachtssache so schön schrieb: Darauf kommt es nicht mehr an, es ist alles schlimm genug.

So jedoch soll die Strafjustiz nicht funktionieren. So darf sie nicht funktionieren. Anscheinend ist den Autoren, die irgendwelche Defizite bei der Justiz beklagen, nicht ansatzweise klar, dass sie mit ihren Forderungen den Rechtsstaat beenden und die Bananenrepublik ausrufen. Das gilt auch für die in anderen Leitartikeln geäußerte Forderung, Lindemann schon deswegen als schuldig zu betrachten, weil mehrere Frauen über die Medien Vorwürfe erheben. Nach dem Motto: Wenn mehrere etwas sagen, dann muss was dran sein. Was für ein absurder Gedanke.

Selbst wenn eine bloße Masse von Anschuldigungen reichen würde, im Fall Lindemann wäre nicht einmal damit was zu erreichen. Die belastenden Berichte klingen zwar schrecklich, trotzdem erfüllen die Erzählungen keine Straftatbestände. Darauf weist die Staatsanwaltschaft ausführlich hin. Mit anderen Worten: Rockstar Lindemann ist womöglich ein unangenehmer Mensch. Dennoch gibt es keine Belege, dass er Frauen vergewaltigt oder sonst wie missbraucht hat. Maßstab hierfür ist nach derzeitigem Stand das Strafgesetz, nicht das moralische Empfinden in Redaktionsstuben.

Noch weiter: Die Staatsanwaltschaft weist darauf hin, dass etliche der Aussagen sich gar nicht auf eigenes Erleben beziehen. Vielmehr berichten Frauen über Dinge, die sie von Dritten gehört haben. Nämlich dass wiederum einer anderen Frau von Lindemann übel mitgespielt worden wäre. Aus Gerüchten und Geschichten gestrickte Wahrheiten können richtig sein. Müssen es aber nicht. Wer aus Hörensagen einen hinreichenden Tatverdacht konstruiert, schreibt die Unschuldsvermutung und damit den Rechtsstaat ab. Sorry, dass ich schon wieder Rechtsstaat schreibe.

Am Ende soll es, wenn ich die zahlreichen Kommentare richtig verstehe, in Sexualstrafsachen auf eine völlige Umkehr der Beweislast hinauslaufen. Dem Beschuldigten, so die Idee einer deutlichen Mehrheit unserer Meinungsredakteure, muss nicht die Tat nachgewiesen werden. Vielmehr gilt er als schuldig, sofern er sich nicht komplett entlasten kann. Falls das jemand an die Zeit der Hexenprozesse erinnert: Weit davon entfernt wäre nicht mehr. Und wer würde sich nicht in diese Zeit zurücksehnen?

Im übrigen mal ein ganz praktischer Hinweis. Man kann gar nicht beweisen, dass man etwas nicht gemacht hat. Sie müssen hinsichtlich dieser einfachen Wahrheit nicht mir als Juristen trauen. Fragen Sie einen Naturwissenschaftler. Er erklärt es ihnen gerne. Aus dem Stegreif.

Oh ja, wir können uns von der Unschuldsvermutung abwenden. Deutschland wäre dann der Hauptkunde des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Polen und Ungarn würden uns völlig zu Recht jedes Recht abstreiten, das dortige Demokratieverständnis auch nur ansatzweise zu kritisieren.

Die Einstellung des Verfahrens gegen Till Lindemann wird durchgehend als große Fehlleistung beweint. Ein Unglücksfall, der nicht wieder gut zu machen ist. Nicht einmal das ist richtig. Die Staatsanwaltschaft hat alle Beweismittel geprüft, die ihr zugänglich sind. Momentan. Sie hat sich darum bemüht, weitere Beweismittel zu bekommen. Erfolglos. Weitere Ermittlungsansätze gibt es derzeit nicht. Sie sind auch nicht absehbar.

In dieser Situation musste der Staatsanwalt prüfen, ob ein hinreichender Tatverdacht gegen Till Lindemann vorliegt. Das wäre der Fall, wenn die Verurteilungswahrscheinlichkeit bei mehr als 50 % liegt. Zugegeben, das ist eine schwammige Zahl. Aber auf sie kommt es nicht an. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lindemann ohne Beweise verurteilt werden würde, liegt bei unter 3 %. Dem Staatsanwalt blieb also gar nichts anderes übrig als das Verfahren einzustellen, und zwar mangels Tatverdachts. So wie es das Gesetz vorschreibt.

Was das mit der Einstellung bedeutet, hat die Staatsanwaltschaft Berlin auch erklärt. Ich wiederhole es gerne: So lange keine neuen Beweismittel vorliegen, bleibt das Verfahren eingestellt. Sollten neue taugliche Beweismittel auftauchen, die wiederum einen neuen Anfangsverdacht begründen, wird das Verfahren wieder aufgenommen. Das ist jederzeit möglich.

Somit haben es die mutmaßlich geschädigten Frauen in der Hand. Sie können mit den Ermittlern sprechen und werden Gehör finden. Es ist ihre freie Entscheidung, ob sie dies tun. Sie können sich sogar Zeit lassen. Die Vorwürfe gegen den Rammstein-Sänger verjähren erst in vielen Jahren.

Die hohe Zahl der Sexualstrafverfahren in Deutschland zeigt, dass viele Frauen mutiger sind als die Zeuginnen gegen Lindemann. Sicher bedarf es für eine Frau einiger Überwindung, sich einem Strafverfahren auszusetzen, und sei es nur als Zeugin. Aber das ist nun mal notwendig im Rechtsstaat (versprochen, ich verwende das Wort letztmalig in diesem Text).

Geschädigte, den Zusatz mutmaßlich können wir uns hier sparen, sind auch nicht ungeschützt. In den letzten 15 Jahren bestanden praktisch alle Änderungen des Strafgesetzbuches und der Strafprozessordung aus zwei Dingen: Schärfere Strafen und Ausbau des Opferschutzes. Es gibt heute psychosoziale Betreuung, das Recht auf Geheimhaltung von Meldedaten, ein erweitertes Recht auf Nebenklage. Und nicht zuletzt auf einen anwaltlichen Vertreter, den sogar der Staat bezahlt. Das ist nur ein Teil der Hilfsangebote.

Die Causa Lindemann muss also keineswegs dauerhaft abgeschlossen sein. Momentan ist sie es aber völlig zu Recht.

„Töten ist eine gute Sache“

Die Berliner Zeitung berichtet über einen Mordprozess:

Die vernehmenden Beamten unterstellten im Video dem mutmaßlichen Täter, dass er „einen Kick“ durch das Töten bekomme. Schließlich hatte er erklärt, die neuen Schuhe, die er bei seiner Festnahme in Flensburg trug, in einem Lidl geklaut zu haben. Weshalb habe er nicht bei Lidl auch Bananen oder sonstige Lebensmittel geklaut, fragt ein Beamter, statt einen Menschen zu töten? Der Angeklagte sagt: „Wenn man etwas haben will, dann muss man töten. … Töten ist eine gute Sache.

Eine erschütternde Geschichte aus dem schönen Berlin, aus vielerlei Gründen.

Auch juristischen.

Hatte der Mann bei seiner Vernehmung keinen Verteidiger neben sich sitzen, wie es eigentlich vorgeschrieben ist? Wenn ja, warum hat sein Verteidiger ihn nicht davon abgehalten, zu so einem frühen Zeitpunkt solche Dinge zu sagen?

Wenn man in solchen Fällen überhaupt schon bei der Polizei unbedingt ein Geständnis ablegen will, dann bitte: „Ich war’s.“ Feierabend. An der Untersuchungshaft geht zu dem Zeitpunkt doch sowieso kein Weg vorbei. Zeit zum Reden und Erklären bleibt genug.

Bei „Hurensöhnen“ hilft auch der beste Anwalt nicht

Das Bayerische Oberste Landesgericht hat die Frage geklärt, ob man Polizeibeamte als „Hurensöhne“ bezeichnen darf. Nein, lautet die wenig überraschende Antwort. Das Gericht verwarf die Revision der Angeklagten. Diese hatte in einer Polizeiwache wohl unangenehme Erfahrungen gemacht. Beim Verlassen einer Polizeidienststelle sagte sie zu ihrer Begleiterin, nicht zu den Beamten, das böse Wort.

Zwar darf man auch Staatsdiener kritisieren, auch mit harschen Worten. „Wegelagerer“ beispielsweise ist keine Beleidigung – bei einer Verkehrskontrolle. Zu den Hurensöhnen hat das Gericht aber eine klare Meinung: „Ein Kontext, in dem die Bezeichnung eines Amtsträgers als Hurensohn gesellschaftlich billigend erscheinen könnte, ist nicht denkbar.“

Die Frau berief sich weiter darauf, dass es einen „beleidigungsfreien Raum gibt“, etwa im Gespräch mit Angehörigen oder engen Freunden. Hier sehen die Richter aber die Notwendigkeit, dass so ein Gespräch auch an einem Ort stattfindet, der gegen Mithörer abgeschirmt ist. Die Tür zu einer Polizeistation gehört in der Tat eher nicht dazu (Aktenzeichen 203 StRR 38/23).

Der Richter rät: Am Flughafen bitte vordrängeln

Bei Chaos am Flughafen kann Eigeniniative gefragt sein. Wird es mit dem Boarding erkennbar knapp, weil es beim Check-in und der Sicherheitskontrolle länger dauerte, müssen sich Reisende nach Auffassung des Amtsgerichts München bei der Sicherheitskontrolle vordrängeln. Unter anderem mit dieser Begründung weist das Gericht die Klage von Reisenden ab, die ihren Flug nach Madeira verpassten.

In dem Urteil steht wörtlich: „“Es wäre vielmehr an dem Kläger gewesen, für ein rechtzeitiges Passieren der Sicherheitskontrolle, gegebenenfalls durch ein Herantreten an andere Reisende mit der Bitte um bevorzugte Abfertigung unter Hinweis auf die gesetzte Boardingzeit, Sorge zu tragen.“

Ich war auch schon in dieser Situation und kann sagen, die Leute in der Schlange zu fragen bringt – gar nichts. Außer dem meist freundlichen, aber bestimmten Hinweis: „Wir haben es auch eilig.“ Ihr könnt gern in die Kommentare schreiben, wie eure Erfahrungen mit dem Vordrängeln am Gate ist.

Ein anderer „Ratschlag“ des Gerichts wäre vielleicht angebrachter gewesen. Ich sprach einen der Aufpasser an. Der wollte mein Ticket sehen, dann fragte er übers Funkgerät seine Kollegen am Sonder-Check-in für Familien und Behinderte, ob dort viel los ist. War es nicht. „Gehen Sie schnell rüber, sagen Sie Ihren Namen, die Kollegen lassen Sie durch.“ Klappte. Noch mal vielen Dank an euren netten Mitarbeiter, lieber Flughafen Düsseldorf.

In dem Fall hatten die Reisenden ihren Flug im Rahmen einer Pauschalreise nach Madeira verpasst. Obwohl sie schon 3 Stunden und 20 Minuten am Flughafen gewesen sein wollen, habe der Abfertigungsschalter erst um 11 Uhr geöffnet. Um 11.20 Uhr war der Check-in beendet, danach wollen die Passagiere direkt zur Sicherheitskontrolle gegangen sein. Dort steckten sie fest und erreichten den Flugsteig erst um 13.05 Uhr. Das Gate schloss allerdings um 12.50 Uhr. Das Flugzeug stand noch in Parkposition, die Bodencrew habe aber den Zutritt verweigert.

Wegen der Verzögerung bei der Sicherheitskontrolle macht es sich das Gericht eher leicht. Diese Aufgabe sei vom Flughafen zu erbringen. Der Flughafen sei aber kein Dienstleister des Reiseveranstalters. Der Reiseveranstalter dürfe sich darauf verlassen, dass die Kontrollen schnell genug ablaufen.

Das Amtsgericht hatte aber auch Zweifel, ob die Geschichte so stimmt. Es sei „nach der Lebenserfahrung“ davon auszugehen, dass das Flugzeug nicht leer nach Madeira geflogen ist (Aktenzeichen 158 C 1985/23).

Antrag ist noch nicht gestellt, wird aber schon mal abgelehnt

Anderthalb Monate hat die Staatsanwaltschaft sich Zeit gelassen, um auf meinen Akteneinsichtsantrag zu reagieren. Nun kriege ich die Ermittlungsakte zugeschickt. Aus dem Begleitschreiben:

„Es wird bei Rücksendung um Mitteilung gebeten, ob eine Stellungnahme / Erklärung beabsichtigt ist. Einer solchen wird binnen 3 Wochen nach Rücksendung der Akte entgegen gesehen. Bereits jetzt wird darauf hingewiesen, dass etwaige Fristverlängerungen nicht mehr gewährt werden.“

Das ist ein ausgesucht freundlicher Umgangston. Zumal ich mich nicht erinnern könnte, den Staatsanwalt in letzter Zeit mit Fristverlängerungsanträgen bombardiert zu haben. Aber unabhängig davon kann es viele Gründe geben, die eine Fristverlängerung notwendig machen. Urlaub. Krankheit. Zu viele Termine. Oder schlicht der Umstand, dass der Anwalt noch Nachforschungen anstellen muss. Eine Fristverlängerung schon im Vorfeld kategorisch auszuschließen, ist unzulässig und spricht nicht gerade für Unvoreingenommenheit.

Befangenheitsanträge gegen Staatsanwälte sind nicht vorgesehen. Aber eine kleine Beschwerde beim Vorgesetzten wäre denkbar. Würde mich sehr wundern, wenn das verbale Zähne-Zeigen mehr ist als der textbausteinmäßige Amoklauf eines mutmaßlich von irgendwas angenervten Staatsdieners.

Zu der Beschwerde wird es allerdings nicht kommen. Ich kriege die Sache in drei Wochen locker verarbeitet. Aber es gibt ja auch immer ein nächstes Mal. Oder ein Kollege mit echten Fristenproblemen lässt auch nicht so mit sich umspringen.

Wir werden sehen.

Anstand und Recht: Muss ich meinen Bruder anzeigen?

Sollte man seinen Bruder anzeigen, wenn der einer Straftat verdächtig ist? Oder muss man es sogar? Ihr kennt die Frage. Sie wird aus aktuellem Anlass gerade heiß diskutiert, vor allem auf X. Hier eine Antwort.

Moral, Anstand, Werte: Darüber werde ich nichts schreiben. Nicht mein Fachgebiet. Ich sage euch aber gerne, was die Gesetze dazu sagen.

Ist es verboten, seinen Bruder anzuzeigen?

Verboten ist es nicht, so lange man den Bruder nicht falsch verdächtigst. Das wäre eine Straftat, dies aber auch gegenüber jeder anderen Person.

Muss ich gegen meinen Bruder aussagen?

Nein. Das Gesetz regelt ausdrücklich, dass du in Bezug auf deinen Bruder nichts sagen musst. Du hast ein komplettes Aussageverweigerungsrecht. Dieses musst du auch nicht begründen. Niemand kann dich zwingen, eine belastende Aussage gegen deinen Bruder zu machen.

Muss ich meinen Bruder entlasten, wenn ich weiß, dass er es nicht war?

Auch hierzu bist du nicht verpflichtet. Das umfassende Zeugnisverweigerungsrecht bei Angehörigen gilt auch in diesem Fall. Grund ist der besondere innere Konflikt, wenn man in Verfahren gegen Angehörige hineingezogen wird. Bei Angehörigen gilt immer die Regel: Nichts sagen ist dein gutes Recht.

Ich habe gegen meinen Bruder bei der Polizei ausgesagt. Muss ich nun auch vor Gericht gegen ihn aussagen?

Nein, du kannst zu jedem beliebigen Zeitpunkt die Aussage verweigern. Auch das musst du nicht begründen. Wenn du bislang nicht von einem Richter vernommen worden bist, kann es sogar sein, dass deine erste Aussage gegen deinen Bruder nicht gegen ihn verwendet werden kann.

Gibt es Fälle, in denen ich meinen Bruder anzeigen muss?

Wenn dein Bruder die Tat bereits begangen hat, musst du ihn nicht anzeigen. Es gibt keine Anzeigepflicht. Man kann, aber man muss nicht. Das gilt übrigens für jedermann, unabhängig ob verwandt oder nicht.

Mein Bruder plant eine Straftat, und ich weiß davon

Hier wird es kompliziert. Es gibt einen Katalog von Straftaten, deren Planung jeder grundsätzlich anzeigen muss. Es handelt sich ausschließlich um schwere Straftaten, beispielsweise Mord, Raub, Freiheitsberaubung. Voraussetzung ist aber, dass man von der Planung glaubhaft erfahren hat. Also nicht nur Gerüchte. Oder Mutmaßungen. Außerdem macht man sich nur strafbar, wenn sich die geplante Straftat in diesem Augenblick noch verhindern ließe.

Wenn sich die Anzeige wegen der geplanten Tat gegen deinen Bruder richten müsste, gibt es von diesem Grundsatz wieder Ausnahmen. Deine Anzeigepflicht entfällt, wenn du dich redlich darum bemühst, deinen Bruder von der Tat abzuhalten. Oder wenn du dich darum bemühst, dass seine Tat erfolglos bleibt. Beispiel: Du holst das Opfer kurz vor der geplanten Tat ab und versteckst es. Auch hier gibt es wieder eine Ausnahme: Deine Anzeigepflicht gegenüber deinem Bruder entfällt nicht durch deine Bemühungen, wenn es sich um Mord, Totschlag, Völkermord, Geiselnahme und ähnlich schwere Delikte handelt.

Für den Alltagsgebrauch kann man mitnehmen: Wenn man von einer Planung erfährt, kann man tätig werden. Man muss es aber nicht. Nur bei besonders schweren Straftaten gibt es Anzeigepflichten.

Darf ich die Tat meines Bruders auf mich nehmen, ohne andere mit zu belasten?

Ja.

Ich soll meinem Bruder helfen, die Spuren seiner Tat zu verwischen

Strafvereitelung ist grundsätzlich strafbar. Aber auch hier nimmt das Gesetz wieder Rücksicht auf Angehörige. Wer einem engen Verwandten hilft, einer Bestrafung zu entgehen, darf nicht belangt werden. Beispiele: Du beseitigst Tatspuren; du überlässt deinem Bruder dein Auto zur Flucht; du versteckst ihn.

Fazit

Blut ist dicker als Wasser. Diese nicht ganz neue Erkenntnis nimmt der Gesetzgeber ernst, auch heute noch.

* Bruder, das gilt entsprechend für folgende nahestehende Personen: Ehegatten (auch geschieden), Eltern, Geschwister, Großeltern, Urgroßeltern, eigene Kinder, Enkel und Urenkel, Schwager.

Alle Verfahren gegen Till Lindemann werden eingestellt

Die Staatsanwaltschaft Berlin hat alle Ermittlungsverfahren gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann eingestellt. Es standen Sexual- und Betäubungsmitteldelikte im Raum.

Die Auswertung der verfügbaren Beweismittel hat laut den Strafverfolgen keine keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür erbracht, dass Lindemann an jungen Frauen sexuelle Handlungen gegen deren Wille vorgenommen hat. Ebenso wenig hat sich bestätigt, dass Lindemann KO-Tropfen verwendet hat. Ebenso wenig hat sich bestätigt, dass er gegenüber minderjährigen Sexualpartnerinnen ein Machtgefälle ausgenutzt hat, um mit ihnen zu schlafen.

Die Ermittlungen begannen allein aufgrund von Presseberichten. Mutmaßliche Geschädigte haben sich bislang nicht bei den Behörden gemeldet. Die Frauen sprachen ausschließlich mit den Medien, welche in ihren Berichten auch keine Namen nannten. Bei Rückfragen der Staatsanwaltschaft beriefen sich die Medien auf ihr gesetzliches Recht, Angaben zu ihren Quellen zu verweigern. Die Möglichkeit, etwaige Tatvorwürfe ausreichend zu konkretisieren, bestand laut Staatsanwaltschaft somit nicht. Ebenso wenig die Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit der Angaben zu überprüfen.

Die Angaben einer Zeugin, die via Youtube Vorwürfe erhoben hatte und die Sache ins Rollen brachte, blieben laut der Behörde in den Vernehmungen zu unkonkret. Die Zeugin haben kein „eigenes Erleben“ schildern können. Die von ihr geschilderten Situationen seien lediglich Rückschlüsse aus Beobachtungen oder sind ihr nur von anderen geschildert worden. Andere von der Zeugin benannte Personen sollen ebenfalls keine belastbaren Tatsachen geschildert haben.

Die Zeugin hatte einen konkreten Vorfall bei einem Rammstein-Konzert in Vilnius geschildert. Jedoch haben die zuständigen litauischen Behörden keinen Verdacht bejaht, so die Staatsanwaltschaft. Die Berliner Strafverfolger betonen, sie hätten die Akten angefordert und selbst überprüft. Das von der Zeugin gezeigte Hämatom lasse keinen Rückschluss darauf zu, wie es entstand und wer dafür verantwortlich ist. Andere Angaben seien widersprüchliche gewesen. Somit sei ein Tatnachweis gegenüber Lindemann nicht möglich, das gilt auch für eventuelle Drogendelikte.

Das Verfahren gegen eine Tourmanagerin wurde aus gleichen Gründen eingestellt. Ausdrücklich betont die Staatsanwaltschaft, dass sich andere mutmaßlich Geschädigte bis heute nicht gemeldet haben.

Eine Zahl durch zwei teilen – eine Herkulesaufgabe für die Strafjustiz

Kannst du eine Zahl durch zwei teilen? Herzlichen Glückwunsch, denn Staatsanwälte und Rechtspfleger können es anscheinend nicht. Wobei nicht ich das unterstelle. Sondern vielmehr ihr Arbeitgeber, die Justiz. Konkret geht es um die Reform der Ersatzfreiheitsstrafe. Ersatzfreiheitsstrafen bezeichnen den Zeitraum, für den man ins Gefängnis muss, wenn man eine Geldstrafe nicht bezahlen kann. Der Maßstab soll halbiert werden. Künftig bedeutet nicht mehr ein Tagessatz nicht bezahlter Geldstrafe einen Tag Haft. Sondern nur einen halben Tag. Oder anders ausgedrückt: Zwei nicht bezahlte Tagessätze führen künftig zu einem Tag Haft. Eine nicht bezahlte Geldstrafe wird also um 50 % preiswerter – wenn man sie auf einer Gefängnispritsche absitzt.

Von diesem Rabatt sollten vor allem Schwarzfahrer und andere „Kleinkriminelle“ profitieren. Außerdem die chronisch überfüllten Gefängnisse. Der Starttermin für den 1. Oktober stand schon verbindlich fest. Nun wurde das Gesetz auf die Schnelle geändert. Nicht inhaltlich. Vielmehr ist der Starttermin erst vier Monate später, am 1. Februar 2024.

Der Grund ist wirklich hörenswert. Justizintern will man nämlich festgestellt haben, dass die Computersysteme das Teilen durch zwei nicht beherrschen. Und man das der Software bis zum 1. Oktober nicht beibringen kann. Wobei das Gesetz bereits am 22. Juni beschlossen wurde. Es waren also volle drei Monate Zeit. Aber drei Monate reichen nach offizieller Darstellung eben nicht, um die doch eher simple Rechenoperation in die IT zu implentieren der Bundesländer zu implementieren.

Wörtlich heißt es im Vorschlag zur Gesetzesänderung, die nur in dem zeitlichen Aufschub bestehen soll: „Die erforderlichen Anpassungen müssen zunächst im Länderverbund fachlich abgestimmt und im Anschluss durch den externen Dienstleister programmiert werden. … Nach der Umsetzung durch den Dienstleister müssten diese getestet werden, bevor diese auch in der Praxis im Echtbetrieb zur Verfügung stehen.“ Außerdem, so heißt es, müsse das „zugehörige Vollstreckungsschreibwerk“ angepasst werden. Damit sind wahrscheinlich die nach wie vor beliebten Formulare auf Papier gemeint.

Auch wenn es so klingt, darf eine Entscheidung im Rahmen der Strafvollstreckung nicht von einem Computer getroffen werden. Das muss ein Mensch machen, der zuständige Staatsanwalt oder Rechtspfleger. Traut man denen die Halbierung einer simplen Zahl mit höchsten drei Stellen nicht zu? Jedes computergestützte Formular in der Justiz hat mindestens ein Freitextfeld. Könnte man das Endergebnis der Rechenoperation dort nicht einfügen?

Was zu Recht nach einer Bürokratieposse klingt, ist für Betroffene weniger lustig. Im langjährigen Mittel verbüßen jeden Tag etwas über 4.000 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe in deutschen Knästen. Für die Betroffenen, die nun in den Monaten Oktober bis Februar zum Haftantritt geladen werden, bedeutet dies die doppelte Haftzeit. Als zu Recht empörter Betroffener könnte man das Ganze als eine Art staatlich organisierter Freiheitsberaubung empfinden. Aus Sicht des naturgemäß zurückhaltenden Fachjuristen gehört die zeitliche Verschiebung eines Gesetzes zu den Kompetenzen des Gesetzgebers. Da wird man wohl nichts machen können, außer einem Antrag auf Strafaufschub bis zum 1. Februar nächsten Jahres. Für dessen Zurückweisung gibt es aber garantiert tadellos funktionierende Textbausteine.

Bericht in der Legal Tribune Online

Staatsanwalt bedauert, dass er Lehrerin anklagen muss

Im Gesetzgebungsverfahren wurde eindringlich gewarnt. Aber dem Bundestag war es egal: Die Strafvorschriften für den Besitz oder die Verbreitung von Kinderpornografie wurden zum 1. Juli 2021 erheblich verschärft. Die Mindeststrafe beträgt seitdem ein Jahr. Ausnahmen: nicht vorgesehen. Weil das Delikt damit vom Vergehen zum Verbrechen hochgestuft wurde, ohne dass es – wie etwa im Betäubungsmittelstrafrecht – einen minder schweren Fall gibt. Auch eine Einstellung des Verfahrens ist schlicht und einfach unmöglich. Welche absurden Konsequenzen dies hat, zeigt ein aktueller Fall aus Rheinland-Pfalz.

Eine 13-jähriges Mädchen hatte ein intimes Video von sich gemacht. Empfänger war ihr Freund. Aber der hatte nichts Besseres zu tun, als die Aufnahmen an Mitschüler zu schicken. Eine Lehrerin bekam das mit. Sie ließ sich das Video schicken, um die Mutter zu informieren. Nun ist sie nach § 184b StGB angeklagt. Selbst die Staatsanwaltschaft bedauert gegenüber der Tagesschau, die Lehrerin vor den Strafrichter zerren zu müssen. „Uns sind die Hände gebunden.“

Dem Richter allerdings auch, denn auch dieser muss sich ans Strafgesetzbuch halten. Ebenso auch das Land Rheinland-Pfalz. Es wird die Beamtin nicht mehr beschäftigen können. Denn bei einer Freiheitsstrafe ab einem Jahr müssen Beamte entlassen werden. Ausnahmen? Ebenfalls nicht vorgesehen.

Immerhin arbeitet das Bundesjustizministerium an einer Entschärfung des Gesetzes, welches es selbst für so dringend nötig hielt. Es gibt auch Eingaben ans Bundesverfassungsgericht, unter anderem von einem bayerischen Amtsrichter. Wann das Gesetz geändert wird oder das Verfassungsgericht entscheidet, ist allerdings noch nicht absehbar. Für Betroffene kann es momentan nur darum gehen, das eigene Verfahren möglichst lange offen zu halten. Ich habe in solchen Fällen durchaus mit Richtern zu tun, die kein Interesse daran, Existenzen zu vernichten. Sie tragen die Verhandlungstermine – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – möglichst spät in den Gerichtskalender ein. Und dann heißt es, durch die Instanzen zu gehen. Denn eine Entschärfung des Gesetzes würde für alle Fälle greifen, in denen das Urteil noch nicht rechtskräftig ist.

Einstweilen kann man nur den Rat des Staatsanwalts in dem Bericht aufgreifen, sich in so einem Fall des „Drittbesitzes“ die Videos oder Fotos nicht schicken zu lassen. Und falls man selbst solche Dinge geschickt bekommt, muss man sich eben überlegen, ob die Polizei der richtige Ansprechpartner ist. Besitz ist eben Besitz. Ein Ermittlungsverfahren ist dann ebenso unausweichlich. Gut ist immerhin, niemand muss sich selbst ans Messer liefern. Und eine Pflicht, den Absender anzuzeigen, mag man vielleicht moralisch sehen. Rechtlich gibt es sie aber nicht. Gute Löschprogramme gibt es zum Glück genug.

Der Minister, ein Flugblatt und viele offene Fragen

Der Fall des bayerischen Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger prägt die Schlagzeilen. Er soll als 16- oder 17-Jähriger Schüler vor 35 Jahren (!) ein volksverhetzendes Flugblatt verfasst und eventuell sogar verteilt haben. Die Justiz hat wohl nie gegen Aiwanger ermittelt. Es gibt also kein Strafurteil gegen ihn. Laut dem Bericht der Süddeutschen Zeitung fand lediglich eine schulinterne Untersuchung statt. Die Süddeutsche Zeitung wird sich in diesem Fall fragen lassen müssen, ob sie nicht unzulässige Verdachtsberichterstattung betreibt. Aiwanger hat schon rechtliche Schritte angekündigt.

Nehmen wir mal an, Oberstufenschüler N. hat im Jahr 1988 im Alter von 17 Jahren einen Mitschüler erschlagen. Selbst wenn er vom Jugendgericht wegen schweren Totschlags bestraft wurde, wäre die Tat aus dem Erziehungsregister gelöscht. Und zwar seit Jahrzehnten. Wäre das Strafverfahren mangels Tatverdachts eingestellt worden oder hätte es gar keines gegeben, wäre die Tat nach 20 Jahren verjährt. Selbst bei einer besonders schweren Straftat wäre also juristisch längst Gras über die Sache gewachsen. So oder so. Der damalige Schüler dürfte sich trotz des Totschlags mit Fug und Recht als unvorbestraft bezeichnen. Schon die bloße Erwähnung der seinerzeitigen Tat oder des Verdachts wäre heute im Gerichtssaal unzulässig.

Diese Maßstäbe kann man zwar nicht 1:1 auf das Presserecht übertragen. Aber wenn’s Staatsanwalt, Richter und Behörden nicht mehr verwenden dürfen, braucht die Presse schon sehr, sehr gute Gründe, wenn für sie etwas anderes gelten soll. Wird Aiwanger von der SZ korrekt behandelt? Ich habe Zweifel.

Hier die wichtigsten Aspekte:

Der „Beschuldigte“ war seinerzeit Jugendlicher. Auch wenn sich über den volksverhetzenden Inhalt des Flugblatts kaum diskutieren lässt, kann es sich um eine Jugendsünde gehandelt haben. Dafür sprechen folgende Umstände: Die Schule soll die Sache rein intern geregelt haben. Mit einem Strafreferat. Was nach dem seinerzeitigen Schulrecht in Bayern eine eher milde Sanktion ist. Überdies hat die SZ keinerlei Beleg dafür, dass Aiwanger jenes Referat geschrieben hat. Aiwanger soll weiterhin zwei Jahre später ganz normal sein Abitur an dem Gymnasium gemacht haben. Ein Strafverfahren gab es nicht. Dabei sind amtliche Ermittlungen für die Presse meist der Aufhänger, der eine Verdachtsberichterstattung erst zulässig macht.

Eine schulinterne Überprüfung steht natürlich auf keiner vergleichbaren Stufe zu Ermittlungen der Polizei. Die SZ kolportiert, die Lehrer hätten seinerzeit eins oder mehrere der Flugblätter in Aiwangers Schultasche gefunden. Das Flugblatt selbst sei auch auf dem Klo aufgetaucht. Das mag so sein, aber das sind doch keine tragfähigen Beweise für Aiwaingers Täterschaft. Außerdem wird Aiwanger angelastet, er habe die Tat angeblich nicht abgestritten. Was wohl bewusst so formuliert ist. Aiwanger hat demnach jedenfalls auch nichts zugegeben. Dass sein Verhalten zu einem Quasi-Geständnis verwandelt wird, lässt sicher nicht nur Strafjuristen die Haare raufen. Stichwort: Schweigerecht.

Recherchiert hat die SZ. Aber hat sie es auch hinreichend sogfältig gemacht? Denn nur dann ist eine Verdachtsberichterstattung zulässig. Das angebliche Flugblatt als solches hat keinerlei Beweiswert gegen Aiwanger. Es existiert wohl, aber was weist Aiwanger als Autor oder Verteiler aus? Die Angaben der damaligen Lehrkräfte helfen da nicht. Für mich stellt sich schon die Frage, welcher Lehrer sich nach 35 Jahren überhaupt noch an Einzelheiten erinnert. Entscheidend dürfte aber sein, dass die SZ den Gesprächspartnern aus Aiwangers früherer Schule Quellenschutz zugesagt hat, da diese – völlig zu recht – juristische Konsequenzen fürchten. Wenn sie aber reden und gleichzeitig anonym bleiben wollen, belegt dies erst mal nur, dass ihnen während der Interviews das Unrecht ihres eigenen Handelns bewusst gewesen ist. Wir reden hier von Geheimnisverrat nach § 353b StGB und gewisse andere Vorschriften aus dem Datenschutzrecht.

Was also ist das hehre Motiv der Informanten, für das sie sogar eigene Straftaten in Kauf nehmen? Ihnen kann es nur darum gehen, dem Politiker Aiwanger zu schaden. Aber was sind Aussagen noch wert, wenn es nach Belastungseifer riecht und der Informant sich ängstlich hinter einer Vertraulichkeitszusage duckt? Eine dürftige Faktenlage, sofern man überhaupt von Fakten reden will. Ich kann mir vorstellen, dass so was einem Gericht ausreicht.

Neben den Aussagen sogenannter Zeugen gibt es aber offensichtlich derzeit keine belastbaren Quellen. Hinzu kommt ja auch, das muss man noch mal klar wiederholen, für Aiwanger grundsätzlich die Unschuldsvermutung streitet. Womöglich ist er schlicht zu Unrecht verdächtigt worden? Außerdem lassen die von der SZ zitierten Angaben noch nicht mal erkennen, wie sicher die Erinnerung der Informanten ist. Diese müssen ja ohnehin steinalt sein. Es fehlt also insgesamt an einem Mindestbestand an sogenannten Beweistatsachen. Genau diese Beweistatsachen fordert die Rechtsprechung aber für eine Verdachtsberichterstattung.

Zuletzt: Auch wenn der SZ-Bericht von Konjunktiven, Unschärfen und Andeutungen sowie vermeintlichem Mitgefühl mit dem Übeltäter trieft, bleibt am Ende eines: die glasklare Vorverurteilung. Ich wäre nicht verwundert, wenn Aiwanger die Süddeutsche Zeitung in Grund und Boden klagt. Der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach hat erst vor wenigen Tagen Millionenstrafen für Rufmord und Vernichtungskampagnen durch die Presse gefordert. Seine Gründe waren äußerst hörenswert, und da war ihm die Causa Aiwanger noch nicht mal bekannt.

Wer schreibt, der bleibt – auch auf WhatsApp

Wie weit geht die Vertraulichkeit unter Arbeitskollegen? Eine wichtige Entscheidung hierzu hat das Bundesarbeitsgericht getroffen – in Bezug auf eine geschlossene WhatsApp-Gruppe. Sieben Mitarbeiter eines Flugunternehmens, die seit vielen Jahren auch befreundet sind, haben jahrelang miteinander geschrieben. Dabei teilte einer von ihnen kräftig aus, und zwar gegenüber Vorgesetzten. Stark beleidigend, rassistisch, sexistisch und sogar zu Gewalt aufstachelnd sollen die Nachrichten gewesen sein. Gegen die fristlose Kündigung wehrte sich der Betroffene in zwei Instanzen erfolgreich. Bis die Sache nun vor das Bundesarbeitsgericht kam. Die Richter dort finden die Sache nicht so eindeutig.

Der gekündigte Angestellte berief sich darauf, dass man im engsten Freundes- und Familienkreis deutlich offener sprechen darf als gegenüber Fremden. Es handelt sich hier um einen besonders geschützten Bereich der Kommunikation. Ich habe vor einiger Zeit beispielsweise einen Motorradfahrer vertreten, der in einer WhatsApp-Gruppe von vier Freunden regelmäßig über einen bestimmten Polizisten seines Heimatortes ablederte, weil er diesen für einen Bußgeldabzocker hielt. Am Ende stand ein Freispruch, weil es im Strafrecht diesen „beleidigungsfreien Raum“ gibt.

Auch im Arbeitsrecht sei so ein geschützter Bereich denkbar, sagen die Richter. Allerdings haben sie Zweifel, dass der Betroffene im konkreten Fall tatsächlich auf die Vertraulichkeit vertrauen konnte. Je heftiger die Äußerungen und je größer die Gruppe, desto weniger sei der Arbeitnehmer geschützt. Auch seien Messenger auf die schnelle Weiterleitung von Nachrichten ausgelegt. Das Gericht hob die bisherigen Urteile auf, die Sache muss neu verhandelt werden. Zunächst erhält der Kläger noch mal Gelegenheit darzulegen, warum er eine „Vertraulichkeitserwartung“ hegte.

Als Arbeitnehmer kann man aus der Sache schon mal dass Ausfälle gegenüber dem Arbeitgeber auch in kleinen, sehr privaten WhatsApp-Gruppen gefährlich sein können. Zumal bei Messengern ja auch nach wie vor der alte Grundsatz gilt: Wer schreibt, der bleibt (Aktenzeichen 2 AZR 17/23).

Was darf die Öffentlichkeit erfahren?

Der Mann hinter FragDenStaat.de, Arne Semsrott, kämpft für die frühe Freigabe von Gerichtsdokumenten. Das würde Strafprozesse transparenter machen.

Es ist bislang nach § 353d Strafgesetzbuch verboten, Dokumente wie Anklageschrift oder Gerichtsbeschlüsse aus einer Strafakte zu veröffentlichen, bevor sie nicht in der Hauptverhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist.

In vielen Fällen gibt es aber schon vor der Hauptverhandlung ein unbestreitbares öffentliches Interesse an Informationen aus dem Verfahren. Zielsicher hat sich Semsrott für die Veröffentlichung der Durchsuchungsbeschlüsse und anderer Dokumente aus den Ermittlungen gegen die Letzte Generation entschieden. Damit riskiert er nun bewusst Strafanzeigen gegen sich selbst.

Jeder, so Semsrott, soll sich in solchen Fällen selbst ein unmittelbares Bild machen können, etwa warum der Ermittlungsrichter Wohnungen durchsuchen und Telefone abhören lässt. Bislang gibt es diese Informationen höchsten gefiltert. Nicht verboten ist es, wenn aus Gerichtsunterlagen indirekt bzw. sinngemäß zitiert wird. Weil keiner vorher genau sagen kann, wo die Grenze zwischen unzulässiger Wiedergabe und indirektem Zitat verläuft, halten sich Medien aber mit Details stark zurück. In seltenen Fällen natürlich auch, weil das mit dem Konjunktiv nicht ganz so einfach ist.

Bei Gerichtsbeschlüssen vor dem eigentlichen Urteil sehe ich persönlich überhaupt keinen sachlichen Grund, diese geheim zu halten. Gleiches gilt auch für Schriftsätze von Verteidigern (vor allem wenn diese selbst mit der Veröffentlichung einverstanden sind).

Auf jeden Fall eine mutige Aktion. Seien wir gespannt, ob Semsrotts Steilvorlage angenommen wird. Der will die Sache bis ganz nach oben durchkämpfen.

Bericht in der Legal Tribune Online

Zurück ans Faxgerät

Die Bremer Datenschutzbehörde möchte alle Anwälte in dem Bundesland zwingen, mit Mandanten nur noch über Ende-zu-Ende-verschlüsselte E-Mails zu korrespondieren. Einen niedrigeren Sicherheitsstandard, etwa die Transportverschlüsselung, will die Behörde nicht akzeptieren. Sie setzt den Anwälten eine Deadline bis zum Jahresende.

Nach dem Berufsrecht können Anwälte – kurz gefasst – mit ihren Kunden auf dem Weg kommunizieren, mit dem diese einverstanden sind. Im Zweifel dann also sogar über Mails ohne besondere Absicherung. Über die extrem strengen Anforderungen der Bremer Datenschützer ist jetzt ein veritabler Streit entbrannt, dessen Einzelheiten beck-online auf- und entschlüsselt.

Die Maximal-Forderung der Datenschutzbehörde ist kaum haltbar. Denn sogar beim besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA), mit dem die Anwälte mit der Justiz und Behörden korrespondieren, wird keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verlangt. Der Bundesgerichtshof hat es ausdrücklich gebilligt, dass bei diesem System die Daten im Rechenzentrum auf dem Transportweg ent- und dann wieder verschlüsselt werden. Darauf beruft sich der Berliner Anwalt Niko Härting, der einen Bremer Anwalt gegenüber der Datenschutzbehörde vertritt.

Ob die Bremer Anwälte also ihre Faxgeräte entstauben und der Bundespost Mehreinnahmen beim Briefporto bescheren müssen, darf bei dieser Ausgangslage bezweifelt werden. Für den Rest der Republik gibt es ohnehin noch keinen Grund zu Sorge. Von entsprechenden Aktionen anderer Datenschutzbehörden ist laut beck-aktuell derzeit nichts bekannt.

Kind misshandelt Katze, hohes Bußgeld für die Mutter

Eine Tierquälerei muss der Halter nicht unbedingt selbst begangen haben, um zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dies zeigt ein aktueller Fall aus Düsseldorf.

Eine 53-Jährige war nach eigenen Angaben mit ihrem Mann im Keller. Währenddessen „spielte“ die 12-jährige Tochter mit der Katze. Sie würgte das Tier, riss es am Fell in die Höhe und warf die Katze mehrfach heftig auf den Boden. Das alles wurde auf Videos festgehalten, die im Internet landeten. Für das Fehlverhalten ihrer Tochter sollte die Frau 5.000 Euro Bußgeld zahlen, weigerte sich aber. Deshalb verhandelte das Amtsgericht den Fall.

Für den Richter kam es nicht darauf an, ob die Frau das Tier selbst misshandelt hat. Als Halterin habe sie Betreuungs- und Schutzpflichten nach dem Tierschutzgesetz, völlig unabhängig ob sie vom Verhalten ihrer Tochter wusste oder es hätte wissen können. Ob das juristisch jetzt ganz so simpel ist, lassen wir mal offen, da müssten wir mehr Einzelheiten wissen. Jedenfalls reduzierte der Richter das Bußgeld wegen geringen Einkommens der Frau auf 2.000 Euro. Die Katze ist laut rp-online über das Ordnungsamt in ein neues Zuhause vermittelt worden.