Das Schweigerecht des Beschuldigten ist ein unglaublich wichtiges Prinzip im Rechtsstaat. Wenn jemand zu Vorwürfen schweigt, dürfen daraus keine negativen Rückschlüsse gezogen werden. Aber wie sieht es aus, wenn ein Angeklagter erst längere Zeit nichts sagt, dann aber doch Angaben macht, ohne dass diese als „Geständnis“ gewertet werden können? Mit so einem Fall hat sich der Bundesgerichtshof beschäftigt.
Ein Angeklagter hatte lange zu dem Vorwurf geschwiegen, er habe ein 14-jähriges Mädchen missbraucht. Bei der Polizei sagte er, er könne sich an so eine Situation nicht erinnern. Beim psychiatrischen Sachverständigen bestritt er die Vorwürfe pauschal. Nachdem das gesundheitlich eingeschränkte Opfer in der Verhandlung – eher überraschend – belastbare Angaben machen konnte, äußerte sich der Angeklagte, ohne dass ihm damit eine Schuld hätte nachgewiesen werden können.
Das Landgericht Waldshut-Tiengen nutzte aber die Möglichkeit, das Verhalten des Angeklagten als „eindeutig taktisch motiviert“ einzustufen. Allerdings hätten die Richter nur berücksichtigen dürfen, dass der Angeklagte sie mit seiner Aussage auf die Aussage des Opfers einstellen konnte. Allerdings sei es nicht in Ordnung, das anfängliche Schweigen ebenfalls ausdrücklich als taktisch zu werten. Das klingt sehr nachvollziehbar. Ansonsten entstünde ein faktischer Druck, nicht den richtigen Zeitpunkt für eine Aussage zu verpassen.
Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf; der Fall muss neu verhandelt werden (Aktenzeichen 1 StR 139/22).