Im ersten Semester Jura lernt man in der Vorlesung zum Strafrecht Allgemeiner Teil unter anderem, ab wann ein Mensch ein Mensch ist – im Sinne des Strafrechts. Thematischer Aufhänger ist § 212 Abs. 1 StGB, der die Tötung eines (anderen) Menschen voraussetzt. Man ist sich weitgehend einig, dass jedenfalls ab Beginn der Eröffnungswehen beim Geburtsvorgang von einem Menschen auszugehen ist.
Der Bundesgerichtshof hat dazu in einem nun veröffentlichten Beschluss (Aktenzeichen 5 StR 256/20) Stellung bezogen. Im entschiedenen Fall war eine Frau mit Zwillingen schwanger. Das war im Jahr 2010. In Folge von Komplikationen bei der Schwangerschaft kam es bei einem der Embryos zu schweren Hirnschäden. Bei der medizinischen Beratung kam ein (straffreier) Schwangerschaftsabbruch beim geschädigten Embryo zur Sprache. Mit Eingriff wäre aber ein erhebliches Risiko für den anderen – gesunden – Embryo verbunden gewesen.
Nur wenige spezialisierte Kliniken boten seinerzeit diesen komplizierten Eingriff an. Die werdende Mutter entschied sich trotzdem dafür, fühlte sich aber in der Spezialklinik nicht gut betreut. Daher wandte sie sich an die Oberärztin einer anderen Klinik für Geburtsmedizin. Diese wollte zwar helfen, aber ihr Krankenhaus war zu dem Schwangerschaftsabbruch bei einem Embryo nicht in der Lage.
Daher fassten die Mutter, die Oberärztin und der Leiter der Klinik den Plan, das gesunde Kind per Kaiserschnitt zu entbinden und den geschädigten Zwilling zu töten. Nachdem der gesunde Embryo auf der Welt war, spritzten die Mediziner dem kranken, aber lebensfähigen Embryo eine tödliche Dosis Kaliumchloridlösung.
Durch eine anonyme Anzeige ist die Staatsanwaltschaft Jahre später auf den Vorfall aufmerksam geworden. Sie klagte den Sachverhalt vor dem Landgericht Berlin an. Das Gericht verurteilte die Ärztin und den Arzt wegen gemeinschaftlichen Totschlags (Urt. v. 19.11.2019, Az. (532 Ks) 234 Js 87/14 (7/16)) zu einem Jahr und sechs Monaten und einem Jahr und 9 Monaten auf Bewährung.
Diese Urteile bestätigte der Bundesgerichtshof nun. Im Kern stellt das Gericht fest, die Regeln für Schwangerschaftsabbrüche gelten nur bis zum Beginn der Geburt. Bei einer Entbindung mittels Kaiserschnitt sei dies die Eröffnung der Gebärmutter. Dies sei unabhängig davon, wie viele Kinder geboren werden. Damit liegt strafrechtlich ein Totschlag vor, weil schon ein „anderer“ existierte. Der Vorsitzende des Strafsenats sprach überdies von einem nicht hinnehmbaren „Aussortieren eines kranken Kindes“.
Neu verhandelt werden muss trotzdem hinsichtlich der Rechtsfolgen, weil das Landgericht nach Meinung des BGH nicht strafschärfend hätte berücksichtigen dürfen, dass die Tat geplant war in nicht aus einer Notsituation heraus geschah. Dies sei bei einer medizinisch indizierten Operation nicht zulässig.
Sowohl materiell-rechtlich als auch im Hinblick auf die klare Feststellung, dass jede Form von Euthanasie strafbar ist, ist das Urteil nachvollziehbar. Da gerade geborene zur Welt gekommene Babys keinen Argwohn empfinden können und die Mutter als potenziell schutzbereite Dritte ebenfalls nicht arglos war, kommt aber immerhin kein heimtückischer Mord in Betracht.
Hintergrundbericht
RA Dr. André Bohn