Einsicht in Gerichtsakten fördert die interessantesten Dinge zutage. Zu den nicht nur interessanten, sondern auch ungewöhnlichen Fundstücken gehört ein Dokument, über das ein Angeklagter in einem Verfahren vor dem Amtsgericht Hamburg-Harburg „stolperte“.
Der Umweltaktivist war wegen der Blockade eines Urantransportes im Jahr 2014 angeklagt. In der Gerichtsakte, die er bzw. sein Verteidiger zur Einsicht erhielt, fand sich ein Ablaufplan für den noch anstehenden Prozess als „Lückentext“ – und ein bereits verfasstes Urteil, das auf Nötigung in Tateinheit mit Störung öffentlicher Betriebe lautete.
Zudem stand folgender Vermerk in der Akte: „Bitte vor der Akteneinsicht alle Unterlagen dringend entfernen.“ Das war dann aber wohl versehentlich nicht geschehen, wie es in diesem Bericht heißt.
Der Angeklagte stellte daraufhin einen Befangenheitsantrag. Dieser wurde jedoch abgelehnt. Begründung: Es stehe dem Tatrichter frei, einen Urteilsentwurf anzufertigen, um sich auf die Hauptverhandlung vorzubereiten. Das ist in der Tat richtig. Aber Notizen des Richters dürfen natürlich nicht so weit gehen, dass sich beim Angeklagten die Besorgnis der Befangenheit aufdrängt – wenn er denn, wie hier, unabsichtlich von den Unterlagen Kenntnis erlangt.
Für die Besorgnis der Befangenheit reicht es nach § 24 Abs. 2 StPO, dass ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Der Richter muss also noch nicht einmal tatsächlich befangen sein. Über den Urteilsentwurf als solchen könnte man ja noch diskutieren. Jedenfalls so lange, wie sich aus dem Entwurf nicht ergibt, dass der Richter absolut unzugänglich für Entwicklungen ist, gerade im Rahmen der Beweisaufnahme.
Aber zusammen mit dem Vermerk, die Unterlagen doch bitte unbedingt vorher aus der Akte zu entfernen, sollte die Diskussion allerdings auf eine Besorgnis der Befangenheit hinauslaufen. Maßgeblich dürften hier zwei formale Grundsätze sein: Die Aktenwahrheit. Und die Aktenklarheit. Beide Grundsätze erfordern im Kern, dass die Akte chronologisch nachvollziehbar ist. Wichtigstes Hilfsmittel ist die Seitennummerierung, die nicht nachträglich geändert werden darf, ohne dies zu dokumentieren. Außerdem können Unterlagen, die zur Akte gelangt sind (auch lose hinten eingelegt), nicht so einfach wieder entfernt werden. Kurz gesagt: Die Akte muss ein vollständiges, nicht geschöntes Bild geben.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn der Richter es mit seinen „Notizen“ so gehandhabt hätte, wie dies schlaue Richter zu tun pflegen. Sie bringen ihre Notizen und Urteilsentwürfe nicht mal in die Nähe der Aktendeckel, sondern behalten diese für sich. Das ist problemlos zulässig. Extrem problematisch ist es aber, wenn der Richter anordnet, bestimmte Unterlagen, die sich offenbar bereits in der Akte befinden, dem Angeklagten vorzuenthalten. Aus diesem Grund dürfte der Befangenheitsantrag deshalb zu Unrecht abgelehnt worden sein.
Autor: Dr. André Bohn, Assessor