Gastbeitrag von Dr. André Bohn, Assessor und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität-Bochum
Die 79 Kommentare zu dem letzten Post „Was, wenn Ulvi K. doch ein Mörder ist?“ zeigen, dass das Thema Interesse weckt und zu Diskussionen anregt. Daher noch mal ein kleiner Überblick zur Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Angeklagten bei Vorliegen neuer Beweise:
Art. 103 Abs. 3 GG normiert den Grundsatz „ne bis in idem“. Nach seinem Wortlaut verbietet er nur jede erneute Bestrafung, aber es besteht Einigkeit, dass der Schutz sich über den Wortlaut hinaus auch auf erneute Verfolgungen bezieht. Ulvi K. darf also nicht noch einmal der Prozess gemacht werden.
In § 362 StPO sind momentan als Ausnahme zu Art. 103 Abs. 3 GG vier Wiederaufnahmegründe normiert. Die Nummern 1-3 betreffen Fehler im Ausgangsverfahren, Nr. 4 normiert das Geständnis des Freigesprochenen als Wiederaufnahmegrund.
In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Gesetzesinitiativen, um in § 362 StPO einen Wiederaufnahmegrund wegen neuer Beweise einzuführen – den es bislang nicht gibt.
In der Regel werden Einzelfälle, deren juristisches Ergebnis als unhaltbar angesehen wird, zur Grundlage solcher Initiativen. Der letzte die Gemüter erhitzende Fall, der zu einer solchen Initiative führte, betraf ein damals 17-jähriges Mädchen, das vergewaltigt und ermordet worden war. Die Polizei ermittelte einen Tatverdächtigen, der zunächst zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Dieses Urteil hob der Bundesgerichtshof auf.
In dem darauf folgenden zweiten Prozess erging ein Freispruch. Jahre später konnte dann aufgrund neuer Untersuchungsmethoden DNA des Freigesprochenen an der Binde des Opfers gefunden werden. Eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens war aber nicht möglich. Der Vater der Getöteten initiierte eine Online-Petition zur Erweiterung des § 362 StPO, die über 105.000 Unterschriften erreichte.
Zu einer Gesetzesänderung kam es zwar nicht, aber auch im momentan geltenden Koalitionsvertrag findet sich der Satz: „Wir erweitern die Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten der oder des freigesprochenen Angeklagten in Bezug auf die nicht verjährbaren Straftaten.“
Eine solche Änderung wäre juristisch aber alles andere als unproblematisch, um nicht zu sagen verfassungswidrig:
Art. 103 Abs. 3 GG stellt ein schrankenlos gewährleistetes (Justiz-)Grundrecht dar. Es kann daher nur durch verfassungsimmanente Schranken, also andere Güter von Verfassungsrang, beschränkt werden. Die materielle Gerechtigkeit, der die Wiederaufnahme des Strafverfahrens dient, ist ein solches Gut.
Ausgehend von dem Prinzip der praktischen Konkordanz muss § 362 StPO aber die sich gegenüberstehenden Rechtsgüter in einen möglichst schonenden Ausgleich bringen, sodass die beiden Rechtsgüter – jeweils beschränkt durch das andere – zu möglichst optimaler Wirksamkeit gelangen. Bei Einführung eines Wideraufnahmegrundes wegen neuer Beweise würde die in Art. 103 Abs. 3 GG verbürgte Rechtssicherheit des Freigesprochenen jedoch in solchen Fällen gar keine Wirksamkeit mehr entfalten.
Im Übrigen könnte eine entsprechende Änderung aufgrund des Rückwirkungsverbots nicht auf Altfälle angewendet werden. Die in solchen Fällen oft eingeforderte Gerechtigkeit kann daher in Bezug auf die Altfälle ohnehin nicht erreicht werden.