Mein Mandant saß schon sieben Monate in Untersuchungshaft, als sein Fall vor dem Schöffengericht verhandelt wurde. Heraus kam eine Strafe von gut 30 Monaten. Da lag es nach dem Urteil, gegen das nur der Angeklagte Berufung eingelegt hat, ja nahe, erst mal über die Aufhebung des Haftbefehls nachzudenken. Oder zumindest über eine Außervollzugsetzung. Immerhin hatte die Untersuchungshaft ja schon ein vorrangiges Ziel erreicht: die Durchführung der Hauptverhandlung zu sichern.
Ich argumentierte damit, dass mein Mandant durchaus eine Haftentlassung nach zwei Dritteln der späteren Strafe erwarten kann. Selbst wenn sich in Berufung und Revision nichts an dem Urteil ändern sollte, blieben rund 20 Monate. Davon sind dann noch sieben Monate abzuziehen, die der Angeklagte bereits als Untersuchungshaft „verbüßt“ hat. Bleiben also 13 Monate. Das ist nach meiner bescheidenen Erfahrung nun eher kein Zeitraum, wegen dem sich ein junger Mann unter 30 Jahren, der noch etwas Verstand beisammen hat, dauerhaft auf die Flucht begeben sollte (zumal der Angeklagte noch nie das Weite gesucht hat).
Aber in der Juristerei kann man halt jedes Argument auch in sein Gegenteil verkehren. Das durfte ich jetzt in dem Beschluss lesen, mit dem das Oberlandesgericht Stuttgart eine Außervollzugsetzung endgültig ablehnte. Darin heißt es:
Gerade aufgrund des belastenden Eindrucks der bislang verbüßten mehrmonatigen Untersuchungshaft ist ausgehend von der noch drohenden Strafvollstreckung überwiegend wahrscheinlich, dass sich der Angeklagte … dem weiteren Verfahren entziehen wird.
Aha, die mehrmonatige Untersuchungshaft in Baden-Württemberg ist also so „belastend“, dass nicht zu erwarten ist, ein Angeklagter werde nach Rechtskraft seines Urteils die Zähne zusammenbeißen und seine überschaubare Reststrafe absitzen, damit er danach einen Neuanfang machen kann.
Wie schief das Argument ist, sieht man einer einfachen Kontrollerwägung: Der Mandant hat an sich gute Aussichten auf einen Platz im offenen Vollzug. Er könnte also noch heute sein Rechtsmittel zurücknehmen, dann würde sein Urteil rechtskräftig. Er käme voraussichtlich ruckzuck in den offenen Vollzug. Um dann von dort aus ebenso „wahrscheinlich“ wie gemütlich abzuhauen – jedenfalls wenn es nach den Vorstellungen des Oberlandesgerichts Stuttgart geht.