Paragrafen-Picking

Hauptaufgabe von Staatsanwälten ist das Paragrafen-Picking. Sie müssen einen Lebenssachverhalt dahingehend bewerten, ob er unter ein Strafgesetz fällt. Dabei kann man auch mal daneben greifen – und schlicht die falsche Tat anklagen. Genau das habe ich in einem Verfahren gerügt.

Meinem Mandanten wird eine Geiselnahme vorgeworfen (§ 239b StGB). Das ist keine Bagatelle, die Mindeststrafe sind fünf Jahre Gefängnis. Der Mandant soll mit anderen Personen seine Tochter mit Zwang ins Ausland gebracht haben und dort knapp 14 Tage festgehalten haben.

Die Anklageschrift ist für so einen schweren Vorwurf extrem, ach was sage ich, geradezu obszön dürftig. Tatsächlich benennen die wenigen Zeilen nur ein Motiv meines Mandanten: Mit der „Entführung“ sollte die Tochter gezwungen werden, künftig ein Leben zu führen, das der moralischen Weltanschauung des Vaters entspricht.

Das mag alles – sofern der Vorwurf tatsächlich zutrifft – nicht nett gewesen sein. Aber ist es auch eine Geiselnahme, die zu so einer exorbitanten Strafdrohung führt? Die Geiselnahme setzt jedenfalls einiges voraus. Das kann man zum Beispiel schon dem Standardkommentar Schönke/Schröder zum Strafgesetzbuch entnehmen:

Zwischen der Beherrschungssituation und der Nötigung muss ein zeitlicher und funktionaler Zusammenhang dergestalt bestehen, dass die erstrebte Handlung des Opfers noch während der Zwangslage vorgenommen werden soll.

Hier ging es aber schon nach der Anklage um das Leben, welches das mutmaßliche Opfer später führen sollte, also zum Beispiel brav zur Schule gehen, den Gottesdienst besuchen und, vor allem, Kontakt mit einem bestimmten Jungen zu meiden. Dieses Leben wäre aber ohnehin erst möglich gewesen, wenn die Zwangslage aufgehoben war. Da passt also der zeitliche Zusammenhang nicht. Auch der funktionale Zusammenhang liegt ja kaum vor, es sei denn, man betrachtet es als „Handlung“, wenn die Tochter so was wie „Ok, ich höre künftig auf dich, Papa“ sagt.

Ich habe das im sogenannten Zwischenverfahren erläutert, in dem das Gericht über die Zulassung der Anklage zu entscheiden hat. Was mich wirklich überraschte, war die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft. Die zuständige Abteilungsleiterin ließ das Gericht höchstpersönlich wissen, zu den Ausführungen von Rechtsanwalt Vetter solle keine Stellungnahme abgegeben werden.

Das kann ich jetzt unterschiedlich interpretieren. Entweder ich schreibe kompletten Blödsinn, der einer juristischen Gegenrede einfach nicht würdig ist. Oder da hat jemand selbst gemerkt, dass hier ein gewaltiger Bock geschossen wurde. Ich hoffe ganz bescheiden auf Letzteres.