Es gibt einige Bundesländer, in denen die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren in Teilen nur noch als reine Empfehlung verstanden werden. Empfehlungen überdies, die man als Staatsanwalt, der Hauptadressat der Richtlinien ist, je nach Tagesform getrost ignorieren kann. Jedenfalls so lange es zu Lasten des Angeklagten geht.
Ein Beispiel. Die Richtlinien bestimmen in Nr. 147, dass die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel wegen einer aus ihrer Sicht zu milden Strafe nur einlegen soll, „wenn die Strafe in einem offensichtlichen Missverhältnis zu der Schwere der Tat steht“. Mit anderen Worten: Sofern das Strafmaß des Urteils nicht jenseits von gut und böse ist und der Angeklagte somit vor Freude auf dem Tisch tanzt, ist die Entscheidung des Richters zu akzeptieren.
In dem betreffenden Fall hat der Richter eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verhängt. Die Staatsanwältin, die auch die Anklage geschrieben hat, hatte in der Hauptverhandlung höchstpersönlich eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten beantragt. Jetzt geht sie wegen der zwei Monate in Berufung. Zur Begründung schreibt sie – ziemlich dreist, wie ich finde – , die Strafe stehe in einem offensichtlichen Missverhältnis zur Tat.
Wer’s glaubt. Tatsächlich hat sie Berufung eingelegt, weil ich für meinen Mandanten Berufung eingelegt habe. Meine Berufung habe ich wohlweislich erst am Nachmittag des Tages ans Gericht gefaxt, an dem die Frist ablief. (Später geht ja nun wirklich kaum, wenn das Gericht weit entfernt ist. Ich will da schon gar nicht mehr das Risiko ausmalen, wenn am Gericht mal das Fax nicht funktioniert.) Keine Ahnung, über welchen Buschfunk die Staatsanwältin noch von meiner Berufung erfahren und anschließend ebenfalls noch ihr Rechtsmittel rausgehauen hat. Obwohl, eine Ahnung habe ich schon. Aber der Richter wird sicher keinen Aktenvermerk geschrieben haben.
Ebenfalls in Nr. 147 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren steht übrigens folgendes:
Die Tatsache allein, dass ein anderer Beteiligter ein Rechtsmittel eingelegt hat, ist für den Staatsanwalt kein hinreichender Grund, das Urteil ebenfalls anzufechten.
Es soll also keine Retourkutschen geben. Aber wie gesagt, wenn es passt, sind halt auch Vorschriften gerne mal Schall und Rauch. Da hilft auch eine fadenscheinige Begründung nicht, die man als Mäntelchen darüber breitet.