Bei uns hat ein Beschuldigter ein sehr weitgehendes Schweigerecht. Außerdem gilt der Grundsatz, dass das Schweigen eines Beschuldigten nicht zu seinem Nachteil ausgelegt werden kann. Jedenfalls so lange, wie er gar nichts sagt. In Vereinigten Königreich Großbritannien ist das anders. Dort können die Gerichte nach aktueller Rechtslage negative Schlüsse ziehen, wenn der Beschuldigte sich nicht zu den Vorwürfen äußert. Die Frage ist, ob wegen dieser rechtsstaatlichen Differenzen Beschuldigte überhaupt nach Großbritannien ausgeliefert werden dürfen.
Ja, sagt nun das Bundesverfassungsgericht in einem aktuellen Beschluss. In dem Fall geht es um einen Mann mit irischer und kroatischer Staatsbürgerschaft, der wegen Mordes im englischen Herfortshire gesucht wurde. Der Mann wurde in Berlin festgenommen und wehrte sich bis vors Verfassungsgericht gegen seine Auslieferung.
Die Karlsruher Richter bejahen zwar, dass die britische Regelung gegenüber der deutschen zurückbleibt. Allerdings sei dies nicht so weit der Fall, dass der Selbstbelastungsdruck bei Strafverfahren im Vereinigten Königreich die Menschenwürde verletze. Immerhin werde kein Beschuldigter zu einer Aussage gezwungen. Außerdem dürfe auch im Vereinigten Königreich Schweigen nur negativ ausgelegt werden, wenn es „weitere Beweismittel“ gebe und eine Gesamtwürdigung des Falles erfolge.
Damit, so das Gericht, sei die Menschenwürde noch nicht verletzt. Das Gericht spaltet das in Deutschland geltende Schweigerecht also ausdrücklich in zwei Teile auf. Einen Kernbereich, der vom unveräußerlichen Grundrecht der Menschenwürde gedeckt ist. Und einen, der nur nachrangig und somit disponibel ist.
Hinter dem Beschluss steckt ein, wie ich finde, sehr gefährliches Argumentationsmuster. Wenn’s in der Sache passt oder zumindest notwendig erscheint, wird das Grundgesetz bis auf sein Stützgerüst reduziert und der Rest für notfalls verzichtbar erklärt.
Dann bleibt am Ende aber wirklich nicht mehr viel Verfassung übrig (Aktenzeichen 2 BvR 890/16).