Kann man jemanden sexuell missbrauchen, der sich „missbrauchen“ lassen will? Auf diese Frage spitzte sich ein Fall zu, über den der Bundesgerichtshof nun entschieden hat. Einem Psychiater, der oft als Gerichtssachverständiger auftrat, war vorgeworfen worden, eine seiner Patientinnen sexuell missbraucht zu haben.
Bei der Frau handelt es sich um eine dem Psychiater bekannte Richterin am Landgericht, die später als Staatsanwältin arbeitete. Während ihrer Zeit als Richterin hatte sie ein Verhältnis zu einem anderen verheirateten Richter. Dieser Richter war wiederum ein guter Freund des Psychiaters. Nach ihrer Versetzung zur Staatsanwaltschaft wollte die ehemals alkoholabhängige Frau an Beruhigungsmittel kommen. Wegen ihrer Krankheitsgeschichte fürchtete sie aber, diese Mittel nicht mehr von ihrem Hausarzt zu bekommen.
Deshalb ließ sich die Staatsanwältin auf eigene Initiative mit dem Angeklagten ein, der ihr schon früher erfolglos Avancen gemacht hatte. Außerdem wollte sie mit dem Verhältnis ihre frühere Affäre, den Richter, ärgern. Es kam dann zu einem mehrmonatigen Verhältnis, in dessen Rahmen der Angeklagte der Staatsanwältin auch Blankorezepte ausstellte und sie medizinisch beriet.
Das Landgericht München verurteilte den Arzt wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses (§ 174c StGB) zu einer Bewährungsstrafe von zehn Monaten.
Der Bundesgerichtshof wertet die Sache anders. Das Gericht weist darauf hin, das Tatbestandsmerkmal „Missbrauch“ habe eine eigenständige Bedeutung. Hier sei es so, dass die Frau sich bereits außerhalb des Behandlungsverhältnisses entschlossen hatte, den Angeklagten für sich zu instrumentalisieren. Aufgrund ihrer Stellung und Persönlichkeit sei die Betroffene dem Angeklagten auch „auf Augenhöhe“ begegnet. Ihr Verhalten sei somit kein Missbrauch, sondern Ausdruck ihrer sexuellen Selbstbestimmung.
Das Gericht spricht selbst von einem „atypischen Fall“. Das Ergebnis ist ein Freispruch (Aktenzeichen 1 StR 24/16).