Das Landgericht Essen hat den Haftbefehl gegen Thomas Middelhoff außer Vollzug gesetzt. Vier Monate ist es her, dass der Ex-Arcandor-Chef bei der Verkündung seines Strafurteils im Gerichtssaal festgenommen wurde, nachdem er monatelang jeden Tag brav zur Verhandlung gekommen war.
Bekannt ist bislang: Middelhoff muss Auflagen erfüllen. Dazu gehören normalerweise Meldepflichten auf der Polizeiwache, die Abgabe von Reisepapieren. Middelhoff selbst hatte eine Kaution von 900.000 Euro angeboten. Weitere Einzelheiten nennt das Gericht nicht, da Middelhoff zuerst informiert werden müsse.
Interessant wird sein, warum in diesem Fall der Vollzug der Untersuchungshaft nun enden kann. Laut Presseberichten heißt es aus dem nordrhein-westfälischen Justizministerium, ausschlaggebend für die plötzliche Milde sei gerade nicht Middelhoffs Erkrankung. Sondern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, nach dem die Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur verhängten Strafe stehen darf. Bei Middelhoff also drei Jahre Gefängnis, ein eher kurze Zeit.
Sollte dies zutreffen, stellt sich die Frage, wieso es überhaupt zu einer Inhaftierung Middelhoffs kam. Denn auch dem Landgericht Essen war bei der Urteilsverkündung klar, dass vor einer möglichen Rechtskraft des Urteils fünf bis zwölf Monate vergehen werden. So lange braucht der Bundesgerichtshof nämlich normalerweise, um über Revisionen zu entscheiden. Wobei natürlich auch die Möglichkeit besteht, dass das Urteil wegen Fehlern aufgehoben wird.
Auch wenn das Urteil Bestand hat, könnnte Middelhoff bei guter Führung auf eine Entlassung nach der Hälfte seiner Strafe, spätestens nach zwei Dritteln hoffen. Also nach 18 bzw. 24 Monaten. Überdies hat er bei so einer relativ geringen Strafe beste Aussichten auf offenen Vollzug.
Dass Middelhoffs Untersuchungshaft geradezu zwangsläufig unverhältnismäßig wird, hätte man also problemlos absehen können. Insofern hat sich der „Zeitplan“ nicht geändert. Da stellt sich natürlich die Frage, wie eine Untersuchungshaft anfänglich für verhältnismäßig gehalten werden kann, wenn man schon von Anfang an sehenden Auges wissen konnte, dass sie bei normaler Entwicklung der Dinge unverhältnismäßig wird.
Das lässt sich dann nur so erklären, dass durch die bereits jetzt „verbüßten“ vier Monate der Fluchtanreiz irgendwie gemindert wurde, weil die Untersuchungshaft auf eine Haftstrafe angerechnet wird. So eine Argumentation ist aber bedenklich, weil ein faktischer Vorabvollzug kein Motiv für Untersuchungshaft sein darf – jedenfalls nicht aus rechtsstaatlicher Sicht. Sollte Middelhoff nämlich noch freigesprochen werden, kann ihm keiner die Monate wiedergeben.
Wenn Middelhoffs Erkrankung also keine Rolle spielen sollte, stellen sich eigentlich noch mehr Fragen als bei verschlechterter Gesundheit. Allerdings kann ich, wie wohl jeder Strafverteidiger auch, aus Erfahrung sagen: Diese Fragen werden auch in weniger prominenten Fällen, in denen es ganz ähnlich läuft, immer wieder gestellt. Antworten kriegt man allerdings fast nie.