Bis heute haben weder England noch die USA ernsthaft dementiert, dass sie das komplette Internet abschnorcheln. Das führt in der Tat zu Aufregung und Unruhe. Allerdings bislang eher nur in netzaffinen Kreisen. So richtig habe ich jedenfalls noch nicht den Eindruck, dass die Auswirkungen einer Totalüberwachung von allem, was wir anklicken, in E-Mails oder auf Facebook schreiben (auch in Form von Privatnachrichten), im Bewusstsein der Menschen angekommen ist.
Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung. In meinem Bekanntenkreis zum Beispiel schwanken die meisten je nach Nachrichtenlage zwischen demonstrativ zur Schau getragener Resignation (“kannste eh nichts machen”), mildem Unglauben und ein bisschen Verärgerung. Wobei sich der Unmut sogar eher auf die offenkundige Unlust der Regierung erstreckt, Prism und Tempora wenigstens ein bisschen höher zu hängen als eine neue EU-Gemüseverordnung – um deren Details kümmert sich die Kanzlerin ja auch nicht.
Tatsächlich sind wir bei Prism und Tempora momentan auf einem Niveau der öffentlichen Wahrnehmung, das knapp über dem Streit zu Google Street View liegt. Es wäre sicher falsch daraus zu schließen, dass den Menschen das Foto ihrer Hausfassade wirklich wichtiger ist als der Umstand, dass sie eines beträchtlichen Teils ihrer verfassungsrechtlich garantierten Rechte verlustig gegangen sind. In Lobreden auf das Grundgesetz müssen ja ohnehin künftig das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sowie ein gutes Stück Menschenwürde ausgespart werden, will der Redner keine Heiterkeitsanfälle erzeugen.
Oder liegt das spürbare Desinteresse vielleicht auch daran, dass der vorsichtige Deutsche vor jeder Wahrheit erst mal ein Propaganda-Manöver “interessierter Kreise” wittert? Ein Schuh, den ich mir ja auch anziehen muss, weil ich für die Piratenpartei in den Bundestag gehen möchte.
Ich möchte deshalb mal zwei Stimmen wiedergeben, die wohl eher nicht verdächtig sein dürften, dem NSA-Skandal ein übertriebenes Potenzial anzudichten.
Hansjörg Geiger zum Beispiel weiß jedenfalls, wovon er spricht. Er leitete seit 1995 den Verfassungsschutz und später den Bundesnachrichtendienst. Den jetzt bekanntgewordenen Übergriffen seitens der USA und England bescheinigt er in der FAZ eine beängstigende Dimension:
Das ist falsch, das ist Orwell. Die neue mögliche Quantität der Überwachung schafft eine neue Qualität.
Die Freiheit jedes einzelnen sieht Geiger – völlig zu Recht – nicht nur dann beeinträchtigt, wenn Geheimdienste abgeschöpfte Kommunikation tatsächlich auswerten. Nein, die Freiheit gehe schon dann zu Grunde, wenn der Mensch nicht mehr darauf vertrauen könne, frei zu kommunizieren.
Da ist mit Horst Dreier noch ein Jurist, der nur deshalb nicht Vizepräsident des Verfassungsgerichts werden konnte, weil er – angeblich – in seinem Grundgesetzkommentar Folter unter Umständen für zulässig erklärte.
Gegenüber der Deutschen Welle erklärte Dreier sehr schön, warum etwas falsch läuft bei uns:
Wenn ich richtig verstanden habe, was die Amerikaner sagen, dann stehen die doch auf dem Standpunkt: Unsere eigenen Bürger, die dürfen wir nicht so ohne weiteres abhören. Aber Ausländer? Jederzeit und unbegrenzt! Das kann ja eigentlich nicht sein. Das wäre jedenfalls nicht das Verständnis des deutschen Grundgesetzes.
Klar ist für den Rechtsprofessor auch:
Wenn es so wäre, dass nicht die amerikanische NSA, sondern eine deutsche private Firma diese Abhörmaßnahmen unternommen hätte, dann wäre völlig klar, dass ein solcher Übergriff des einen privaten Trägers auf die Freiheitsrechte unzähliger Bürger, auf ihr Recht auf Privatsphäre und ihre informationelle Selbstbestimmung, absolut unerträglich und absolut unzulässig wäre.
Das Hauptproblem sieht Dreier darin, wie das Grundgesetz anderen Staaten entgegengehalten werden kann. Viele Fragen seien hier offen, aber es ist nach seiner Meinung evident, dass der Staat seiner Schutzpflicht in irgendeiner Weise nachkommen muss und nicht vollständig untätig bleiben darf.
Ich hoffe, dass sich in Kürze noch viele andere kluge Menschen zu Wort melden werden, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Das hilft sicher dabei, Unglauben und Resignation in legitimen Protest zu verwandeln. Acta wurde auf der Straße verhindert. Das sollte mit dem nötigen Anschub bei Prism und Tempora ebenfalls möglich sein.