Vermeintliches Herrschaftswissen

“Sie kennen wohl nicht die Strafprozessordnung?” Das ist ein beliebtes Argument bei Richtern und Staatsanwälten, wenn ein Verteidiger mal wieder was Unbequemes erreichen möchte. Oft lohnt sich die Rückfrage, wo in der Strafprozessordnung denn genau das steht, was die Auffassung von Gericht und Staatsanwalt bestätigen soll. Da wird es dann oft verräterisch still.

Besser ist es für den Anwalt natürlich, wenn er gleich den passenden Paragrafen zur Hand hat…

Ein konkretes Beispiel für den mitunter hochmütigen Umgang mit vermeintlichem Herrschaftswissen liefert jetzt ein baden-württembergischer Oberstaatsanwalt. Der wetterte in einer Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Emmendingen von einer “ungeheuren Verfehlung” des Verteidigers und möchte diesen sogar bei der Anwaltskammer anzeigen.

Das Amtsgericht verhandelt über einen folgenschweren Verkehrsunfall. Ein junger Mann soll mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren und den Tod zweier Menschen verursacht haben. Dafür ist er angeklagt. Die Ex-Freundin des Angeklagten ist eine Zeugin. Mit ihr soll der Angeklagte direkt nach dem Unfall telefoniert haben.

Der Verteidiger des Angeklagten lud die Ex-Freundin des Angeklagten zu einem Gespräch in seine Kanzlei, das dann auch tatsächlich stattfand. Das hält der Oberstaatsanwalt für eine “ungeheure Verfehlung”, denn die Zeugin sei dadurch beeinflusst worden.

“Sie kennen wohl nicht die Strafprozessordnung?”, möchte man zur Abwechslung mal zurückrufen. Jedenfalls sind dem Strafverfolger aber offenbar die Rechte eines Verteidigers nicht bekannt. Zu denen gehört seit jeher, selbst den Sachverhalt zu ermitteln. Das heißt, auch ein Verteidiger darf Zeugen befragen, um sich ein Bild machen zu können, was diese denn wohl sagen werden. Er muss keineswegs brav abwarten, bis die Zeugen in der Hauptverhandlung auftauchen und sich dann von ihrer Aussage überraschen lassen.

Allerdings hat der Verteidiger keine besonderen Rechte. Er ist da ungefähr mit der Polizei gleichgestellt, bei der ja auch kein Zeuge aussagen muss – auch wenn Polizeibeamte gerne immer wieder anderes behaupten. (Lediglich Staatsanwälte und Gerichte können Zeugen zu einer Aussage zwingen.) Ob und was Zeugen sagen, steht sowohl im Gespräch mit der Polizei als auch mit dem Verteidiger ganz in ihrem Belieben.  

Der Verteidiger darf einen Zeugen auch nicht beeinflussen. Das wäre womöglich Strafvereiteilung. Verhält sich der Verteidiger aber neutral, hat er – entgegen der Auffassung des Staatsanwalts – sehr wohl das Recht, mit Zeugen über die Sache zu sprechen. Ich persönlich halte es in solchen Fällen nach Möglichkeit so, dass ich einen Zeugen beim Gespräch dabei habe, zum Beispiel jemand aus meinem Büro.

An diesem Punkt ist nun doch etwas Kritik an dem Verteidiger angebracht. Er hat nämlich zugelassen, dass sein Mandant, der Angeklagte, die Zeugin an einer Tankstelle abholt und zu ihm in die Kanzlei bringt. Außerdem war der Angeklagte beim Gespräch dabei.

Auch das ist an sich nicht verboten. Sofern das Gericht kein Kontaktverbot zwischen dem Angeklagten und Zeugen angeordnet hat, sind Treffen und Gespräche im Vorfeld zwar nicht gern gesehen, aber völlig legal. Ein Angeklagter, der Zeugen dabei beeinflusst, hat juristisch übrigens den “Vorteil”, dass er keine Strafvereitelung begehen kann; diese ist in eigener Sache gesetzlich ausgeschlossen. Allerdings besteht für einen Angeklagten natürlich das Risiko, wegen “Verdunkelungsgefahr” in Untersuchungshaft zu wandern.

Dass der Angeklagte bei dem Gespräch dabei war, sieht natürlich nicht gut aus. Das hätte der Verteidiger vielleicht anders organisieren können. Aber, wie gesagt, gegen Gesetze oder Standesrecht verstoßen hat er nicht.

Aber immerhin hatte der Oberstaatsanwalt seine Show.

Bericht in der Badischen Zeitung

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