Es kommt selten vor, dass der Bundesgerichtshof einem untergeordneten Gericht insgesamt sein Misstrauen ausspricht. Im Fall des Polizeiarztes, der im Jahr 2005 durch einen Brechmitteleinsatz den Tod eines 35 Jahre alten Mannes verursachte, geschieht dies aber.
Die Karlsruher Richter bedauern in ihrer Entscheidung ausdrücklich, dass sie die Sache erneut an das Landgericht Bremen zurückgeben müssen – einfach, weil es in dem Stadtstaat kein weiteres Landgericht gibt. Eine Verweisung an ein Landgericht in einem anderen Bundesland lässt die Strafprozessordnung nicht zu.
Zwei Mal hat das Landgericht Bremen den Polizeiarzt freigesprochen. Zum zweiten Mal hat der Bundesgerichtshof das Urteil nun aufgehoben. Nicht nur bei ihrem Bedauern, wieder die Bremer Richter mit der Sache betrauen zu müssen, finden die Karlsruher Richter deutliche Worte der Kritik.
Die Bremer Strafrichter müssen sich “haltlose Unterstellungen zugunsten des Angeklagten” vorwerfen lassen. Sie haben es nach Auffassung des Bundesgerichtshofs außerdem unterlassen, “gebotene zwingende Folgerungen … zu ziehen”. Mit anderen Worten: Auch der zweite Freispruch für den Polizeiarzt war von vornherein so gewünscht, und dementsprechend hat das Landgericht sich die Begründung hingebastelt.
In der Tat zeigt der Bundesgerichtshof gravierende Mängel des Urteils auf. So gestehe das Landgericht Bremen dem Polizeiarzt zu, er habe nicht mit dem Tode des Patienten rechnen müssen. Und das, obwohl der Mann durch einen ersten Brechmitteleinsatz bereits erkenbar so angegriffen war, dass der Polizeiarzt sogar den Notarzt gerufen hatte.
Nachdem der Notarzt den Betroffenen mit Medikamenten und Sauerstof stabilisiert hatte, setzte der Polizeiarzt den Brechmitteleinsatz fort. Dabei bat er den Notarzt, die weitere “Behandlung” abzuwarten. Aus dem Rettungswagen ließ sich der Polizeiarzt dann sogar einen Spatel bringen. Die anwesenden Polizisten veranlasste er, unter erheblicher Gewalteinwirkung den Mund des 35-Jährigen zu öffnen. Mit dem Spatel löste er dann manuell den Brechreiz aus. Bei dieser Behandlung kollabierte der Mann und verstarb.
Das Landgericht Bremen sah darin ein “multifaktorielles Geschehen”, bei dem der Polizeiarzt nicht mit dem Tod des Betroffenen rechnen musste. Diese Auffassung bezeichnet der Bundesgerichtshof, zusammengefasst, als Nonsens. Schon der Umstand, dass der Polizeiarzt den Notarzt alarmierte, belege ein Bewusstsein von der Gefährlichkeit der Situation. Auch die Bitte an den Notarzt, für alle Fälle zu bleiben, deute nicht gerade darauf hin, dass der – erfahrene – Polizeiarzt die Sache als harmlos einstufte.
Spätestens die gewaltsame Auslösung des Brechreizes habe aber eindeutig zu einer lebensgefährlichen Situation geführt. Der Bundesgerichtshof nennt dieses Vorgehen schlicht menschenunwürdig. Der Polizeiarzt habe es auf jeden Fall versäumt, das erkennbare Risiko abzuklären. Er habe sich stattdessen für einen nicht beherrschten medizinischen Eingriff entschieden. Selbst ein bislang unentdeckter Herzfehler des Betroffenen könne angesichts dessen nicht dazu führen, das Geschehen als “Unglück” einzustufen.
Nun wird erneut eine Schwurgerichtskammer am Landgericht Bremen über den Fall entscheiden müssen. Der Bundesgerichtshof betont in seiner Entscheidung mehrmals, dass sich die jetzt zuständigen Richter an die rechtlichen Vorgaben aus Karlsruhe halten müssen. Aber das hätten sie auch schon bei dem jetzt aufgehobenen Urteil tun müssen.
Brechmitteleinsätze hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof mittlerweile insgesamt als Folter eingestuft und für unzulässig erklärt. Die deutsche Polizei muss nun in der Regel warten, bis verschluckte Gegenstände auf natürlichem Weg den Körper eines Verdächtigen verlassen.
Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20. Juni 2012, Aktenzeichen 5 StR 536/11