Stellt euch vor, ihr habt eine leitenden Funktion in einem Unternehmen. Ihr seid jetzt schon einige Jahre dabei, leistet gute Arbeit und habt Aussicht, vielleicht auch mal befördert zu werden. Dann entscheidet ihr euch von einem Tag auf den anderen, nicht mehr zu telefonieren. Also mit Kunden und Geschäftspartnern. Eure Sekretärin muss allen Anrufern ausrichten, dass ihr keine Anrufe entgegennehmt, egal wie wichtig es ist, sondern nur per Mail, Fax oder Post kommuniziert.
Was würde passieren?
Die Chance auf Beförderung wäre weg. Und der Job auch, und das wahrscheinlich innerhalb weniger Tage. Oder vielleicht auch nicht. Denn es gibt tatsächlich eine Branche, in der man so eine Nummer durchziehen kann und jedenfalls seinen bisherigen Status nicht risikert. Freilich klappt das nicht bei den beliebtesten Arbeitgebern wie Google oder BMW. Nein, dazu muss man in den Staatsdienst – und Richter werden.
Ich bin heute mal wieder einem dieser – zugegeben seltenen – Richterexemplare begegnet. Das heißt, fast fast bin ich ihm begegnet, denn die nette Dame auf seiner Geschäftsstelle stellte mich ja nicht zu ihm durch. “Herr J. spricht nicht mit dem Publikum”, sagte sie. “Ich bin Prozessbevollmächtigter der Beklagten.” “Er spricht auch nicht mit Anwälten.”
Ich fragte, ob Herr J. vielleicht gerade verhindert ist. Weil er eine wichtige Sache bearbeitet, etwa. Dafür hätte ich großes Verständnis. Ich kann auch nicht immer ans Telefon, wenn ich nicht kirre werden will. “Soll ich mich später noch mal melden? Ich kann es gern morgen versuchen.” “Herr J. ist nicht im Stress, jedenfalls nicht dass ich wüsste. Er spricht einfach nicht mit Ihnen, grundsätzlich nicht.”
Irgendwie hatte ich das Gefühl, die Dame verschweigt mir was. “Ist er vielleicht hörbehindert?” “Nein.” “Stumm?” “Nein, Herr J. hat kein Handicap. Er telefoniert ja auch, zum Beispiel auf seinem privaten Handy. Aber halt nicht mit Anwälten oder Prozessparteien. Dazu hat er keine Lust.”
Richter J. verweigert also die dienstliche Kommunikation per Telefon, um sich sein Leben bequemer zu gestalten. Ich räume ein, viele werden ihn darum heftig beneiden. Insbesondere für den Umstand, dass die richterliche Freiheit in Deutschland so eine Einstellung wohl abdeckt und damit arbeitsrechtliche Konsequenzen unmöglich macht.
Ein Richter hat ja auch keine Anwesenheitspflicht im Gerichtsgebäude. Wenn er also seinem Dienstapparat durchweg fernbleiben kann, wird man ihm auch kaum vorwerfen können, dass er nicht drangeht, selbst wenn er im Büro ist. So oder ähnlich wäre wahrscheinlich die Argumentation, mit der höhere Stellen streng nach Gesetz Beschwerden gegen J.s Blockadehaltung abschmettern würden. Und es wahrscheinlich auch schon getan haben.
Immerhin entnahm ich dem tiefen Seufzen der Geschäftsstellenmitarbeiterin, dass nicht jeder im Gericht glücklich mit seinem Verhalten ist. “Danke, dass Sie mich nicht anbrüllen, wie das viele machen”, sagte sie. “Ich kann ja nun auch nichts dafür.”