Es gibt ja die merkwürdigsten Dinge. Hierzu gehört das “Wuppertaler Landrecht”. Eine feststehende Weisheit unter nordrhein-westfälischen Strafverteidigern. Diese besagt, dass es in Wuppertal für Angeklagte nur eines gibt – übermäßig harte Strafen.
In Wuppertal arbeiten in der Tat einige Richter, die das Klischee bedienen. Ebenso gut kann man aber Juristen mit Augenmaß begegnen, die eine solide Verhandlungsführung pflegen und es nicht als Ehrensache ansehen, jeden Angeklagten einzunorden. Aus beiden Kategorien gibt es aber Richter an jedem Gericht. Ich für meinen Teil meine deshalb, dass das Wuppertaler Landrecht vielleicht mal existiert hat. Heute ist es nicht mehr als eine Legende.
Allerdings will ich nicht behaupten, völlig frei von Vorbehalten zu sein. Bayerische Staatsanwälte habe ich bisher zum Beispiel als eher unzugänglich erlebt. Und sicher bin ich nicht der einzige Verteidiger, der bei Gastauftritten in Bayern schon per se mit einer härteren Strafe rechnet als, sagen wir mal, in Düsseldorf und dem Ruhrgebiet.
Aber nicht mal die Bayern darf man über einen Kamm scheren. Ich habe das heute in einer Hauptverhandlung erlebt. Diese verlief ohnehin in überraschend freundlicher Atmosphäre, aber der noch junge Staatsanwalt haute mich wirklich um. “Ich nehme an”, sagte er unter anderem in seinem Plädoyer, “dass ich jetzt in Teilbereichen die Strategie der Verteidigung übernehme.”
Das war noch untertrieben, denn der Staatsanwalt forderte für meinen Mandanten, der ein Geständnis abgelegt hatte, eine außerordentlich milde Strafe. Ich hatte mir auch überlegt, genau diesen Vorschlag zu machen, hatte jedoch Zweifel, ob das im Gerichtssaal nicht letztlich nur für Erheiterung sorgt. Es war aber keineswegs so, dass ich dem Staatsanwalt vor der Verhandlung einen Umschlag zugesteckt hatte. Nein, der Mann hatte wirklich hörenswerte juristische Argumente. Darüber hinaus, und das fand ich eigentlich am wichtigsten, zeigte jeder Satz seines Plädoyers, dass er die Menschen im Auge hatte. Das Opfer der Tat, aber auch den Angeklagten.
Ich war also in der seltenen Verlegenheit, dem Gericht wahrscheinlich eine härtere Strafe vorgeschlagen zu haben, als sie der Vertreter der Anklage forderte. Zum Glück plädiert immer erst der Staatsanwalt, so dass ich das nicht direkt zugeben musste. Das Gericht hat dann zwar von seiner Möglichkeit Gebrauch gemacht, doch eine etwas härtere Strafe auszusprechen. Allerdings fiel diese doch deutlich niedriger aus, als es vorher im Raume gestanden hatte.
In zwei Wochen habe ich wieder einen Termin in Bayern, aber in einer anderen Ecke des Landes. Falls mir dort noch mal Fairness widerfährt, wäre ich glatt bereit, mich von meinem liebevoll gepflegten Vorurteil zu verabschieden.