Richter sind verpflichtet, ohne Ansehung der Person zu urteilen. Wie sehr das mitunter daneben geht, belegt ein Beispiel aus Ostfriesland. Ein krasses Beispiel, zugegeben.
Das Landgericht Aurich hatte die Frage zu entscheiden, ob ein Angeklagter einen Kioskbesitzer beleidigt hat. Richtige Beweise dafür, dass der Angeklagte am betreffenden Tag den Kioskbesitzer tatsächlich als Drecksack und Arschloch tituliert hat, gab es nicht. Selbst die Angaben des vermeintlich Beleidigten, der als einziger Zeuge zur Verfügung stand, waren nicht sonderlich konkret.
Das Landgericht Aurich behalf sich zunächst mit dem Hinweis, der Angeklagte sei bereits früher wegen Beleidigung aufgefallen, deshalb sei ihm so eine Tat nicht fremd. Dann griff es noch zu folgendem Argument:
Dem entspricht der heruntergekommene Eindruck, den die Strafkammer von dem Angeklagten gewonnen hat.
Es kommt nur selten vor, dass Strafrichter ihre eigenen Vorbehalte, man könnte es auch Dünkel nennen, so offen ins Urteil schreiben. Das heißt aber nicht, dass die Neigung, von oben auf weniger gut situierte oder einen anderen Lebensstil als vollversorgte Juristen pflegende Mitmenschen herabzublicken, bei Richtern nicht anzutreffen wäre. Sicher nicht bei allen, aber doch bei einer nicht unbeträchtlichen Zahl.
Zumindest das Oberlandesgericht Oldenburg bremste diese, ich sage es mal offen, Willkürjustiz aus:
Ob der Angeklagte, der einem sozial randständigen Milieu zugehört, einen „heruntergekommenen“ Eindruck macht, ist für die Frage, ob er die Tat beging oder sie zu Recht bestreitet, irrelevant und völlig unergiebig. Der Wahrheitsgehalt der Einlassung eines Angeklagten wird nicht von seinem äußeren Erscheinungsbild berührt.
Das Urteil wurde aufgehoben. Eine andere Kammer des Landgerichts Aurich muss neu entscheiden.
Oberlandesgericht Oldenburg, Beschluss vom 4. Oktober 2011, Aktenzeichen 1 Ss 166/11