Ich wage eine Prognose: Die Zeit von 1985 bis 201x, die wir vielleicht nur als leidlich aufregend empfanden bzw. empfinden werden, wird in den nur noch elektronisch abrufbaren Geschichtsbüchern künftiger Generationen einen ebenso großen Platz einnehmen wie das Römische Reich oder die Industrialisierung. Und zwar nicht in erster Linie wegen 09/11, sondern weil sich in dieser Zeitspanne der Herzschlag der Welt umstellte – von analog auf digital. Wer nicht auf die Betrachtungen aus der Zukunft warten will, kann schon ab heute zu einem ersten Rückblick auf die Sturm- und Drangjahre diese Epoche greifen: Christian Stöckers “Nerd Attack!”.
Der Autor, hauptberuflich Leiter der “Netzwelt” beim Spiegel online, will die Geschichte der digitalen Welt vom C 64 bis zu Twitter und Facebook aufschreiben. Das hat er gleichermaßen unterhaltsam und informativ hingekriegt – die Vorabversion des Buches war am Wochenende jedenfalls mein Entertainmentprogramm Nr. 1.
Stöcker wählt als Einstieg eine sehr persönliche Sicht der Dinge. Das bietet sich bei ihm an, denn seine Teenagerjahre sind mit dem C 64 verknüpft, dem bis heute erfolgreichsten “Computer” überhaupt. Witzig ist eine Schilderung von den langen Nachmittagen in Elektromärkten, als Trauben nerdiger Kids um einen Platz an den Ausstellungsstücken rangelten; zunächst war der selbst der der C 64 vom Preis her nicht mal weihnachtsgeschenkkompatibel.
Eine Floppy fasste 170 KB, Spiele besaßen anfangs keinen Kopierschutz, und Mädchen hatten mit all dem Elektrokram leider zunächst nicht viel am Hut. Es sind durchaus selige Erinnerungen, aus denen Stöcker schöpft. Aber es war halt auch eine geile Zeit, jedenfalls für jene, die schon damals was mit Bits und Bytes anfangen konnten.
Wie der kleine Christian, wird das Buch dann aber schnell erwachsener. Stöcker schildert den Siegeszug der Personalcomputer, das Aufploppen von “Netzen” und das heute noch immer wachsende Staunen, dass die Online-Welt mehr ist als ein Quelle-Katalog auf dem Monitor.
Apropos Quelle. Besonders gefällt mir Stöckers Schilderung, wie ganze Branchen unter die Räder kamen. Reisebüros und Fotogeschäfte sind einige seiner Beispiele – und natürlich das auf Papier gedruckte Wort. Das Kapitel “Digital ist besser” sagt schon, wie Stöcker die Zukunft wertet und dass er sie vor allem als Chance begreift. Dem haben auch die seit 20 Jahren unveränderten Argumente der “nostalgischen Generation” von Politikern und Printredakteuren wenig entgegen zu setzen, die der Autor schonungslos seziert.
Die zweite Hälfte des Buches ist eine gut geschriebene Nabelschau, zumindest für alle, die einigermaßen in der digitalen Welt angekommen sind. Stöcker beschreibt, wie Soziale Netzwerke, Youtube, Blogs, Foren und die derzeit “nächsten großen Dinger” jedermann zu einer weltweit hörbaren Stimme verhelfen. In diesen Kontext packt er die großen Themenfelder Datenschutz und Kriminalität im Netz. Das ist eine saubere, jeweils mit praktischen, niemals staubtrockenen Beispielen unterlegte Analyse, die einen so ziemlich auf den neuesten Stand bringt.
Nerd Attack! belegt, die letzten 30 Jahre waren historisch aufregende Zeiten. Und es spricht wenig dafür, dass sich das in naher Zukunft ändern wird.