Wie Menschen getäuscht werden – damit kennt sich Bärbel Kannemann beruflich aus. Die 63-Jährige war Kriminalbeamtin in einem Betrugskommissariat. Nach ihrer Pensionierung nutzt sie ihre Erfahrung ehrenamtlich und warnt bundesweit vor „Loverboys“. Das sind Männer, die Mädchen und junge Frauen erst mit Schmeicheleien betören, sie dann aber zur Prostitution und sogar zu Straftaten wie Drogenhandel zwingen.
Wir sprachen mit Bärbel Kannemann über Herkunft, Entwicklung und Vorbeugung der neuen Art eines Verbrechens.
Wer sind die Loverboys?
Loverboys sind in der Regel junge Männer zwischen 18 und 30 Jahren. In den meisten Fällen Anfang 20.
Was tun diese Männer?
Sie kontaktieren junge Mädchen vor Schulen, auf Schulhöfen, im Internet, im Kino oder in Fast-Food-Restaurants. Sie spielen den Mädchen Gefühle vor, geben ihnen Bestätigung, um sie dann in die Prostitution oder zu Straftaten zu bringen.
Ist das ein Geschäft für diese Männer?
Das ist eindeutig ein Geschäft. Nichts anderes. Es profitiert allerdings einzig und allein der Loverboy.
Ist die Szene organisiert, gibt es Hintermänner?
Das ist derzeit schwer zu sagen. Aber wenn man hört, dass einzelne Opfer von Loverboys mit sechseinhalb Kilo Kokain auf einem Flug von Kolumbien nach Madrid erwischt werden, dann kann es sich nicht nur um Einzeltäter handeln.
Woher kommt das Phänomen?
In den Niederlanden wird seit 15 Jahren davon gesprochen, in Deutschland wird das Thema weitgehend totgeschwiegen. Man spricht nicht drüber, man schämt sich. Niemand möchte beginnen, unbefangen über das Problem zu reden.
Wer sind die Opfer?
Junge Frauen aus allen sozialen Schichten. Das sind nicht nur kleine Naivchen. Ich höre immer wieder: Wie kann man so blöd sein, auf diese Typen reinzufallen? Das hat nichts mit Blödsein zu tun. Es sind Mädchen, die im Moment der Kontaktaufnahme einfach in irgendeiner Lebenskrise stecken. Das kann alles Mögliche sein, Schulwechsel, ein Todesfall in der Familie, finanzielle Probleme. Oder es handelt sich ganz einfach um junge Frauen, die Anerkennung, Aufmerksamkeit, Zuneigung, Beachtung und Bestätigung brauchen. Das kann jedes Mädchen aus jeder Familie sein. Aus jeder sozialen Schicht.
In welchem Alter?
Die Jüngsten sind elf Jahre alt, wir haben momentan sehr viele Mädchen im Alter von 13 Jahren. Es gibt auch eine weitere Gruppe volljähriger junger Frauen um die 20.
Welche Straftaten begehen Loverboys an ihren Opfern?
Es geht primär um Menschenhandel, Freiheitsberaubung, Vergewaltigung, Körperverletzung.
Sie sagen, diese Straftaten werden in Deutschland totgeschwiegen? Wie kann das sein?
Ich mache keinesfalls der Politik oder der Polizei einen Vorwurf. Es wird nämlich meist keine Anzeige erstattet. Jedes Mädchen, jede Familie denkt, das ist nur mir passiert, ich habe etwas falsch gemacht. Alle Mütter fragen sich: Was habe ich falsch gemacht? Man geht nicht zur Polizei, weil man einfach denkt, es ist nur mir passiert. Wenn die Straftaten nicht ans Licht kommen, wird weder in der Politik was passieren noch die Polizei sensibilisiert.
Was sollen die Opfer oder deren Angehörige denn tun?
Sie müssen in erster Linie erkennen, dass es nicht ihre “Schuld” ist. Sich in den falschen Mann zu verlieben, passiert oft und in jeder Altersstufe. Man darf das Verhalten der Opfer deshalb nicht als Fehler bezeichnen. Die schlimmen Dinge machen die Täter. Wenn ein Mädchen mit elf, zwölf Jahren an einen Loverboy gerät, wird es verwöhnt, aber gleichzeitig von seinem sonstigen Umfeld isoliert. Wichtig ist, Hilfe zu suchen – und auch Anzeige zu erstatten.
Gibt es Anzeichen, wie die Täter mit den Opfern umgehen?
Die Täter müssen keine hochintelligenten Kriminellen sein. Es reicht psychologischer Spürsinn. Sie machen im Ergebnis mit den Mädchen eine Art Gehirnwäsche. Das Opfer wird emotional an den Täter gebunden – oft auch unterstützt von Drogen.
Wie sollen Opfer und deren Eltern etwas merken?
Häufig stecken die Mädchen in der Pubertät. Sie sind ohnehin zickig, kommen zu spät nach Hause, wechseln den Kleidungsstil. Die Opfer zeigen aber womöglich andere Auffälligkeiten. Uns wird oft von stundenlangen Duschen berichtet. Außerdem verfügen die Betroffenen plötzlich über Gegenstände, die sie von ihrem Taschengeld nicht finanzieren können. Sie tragen womöglich auch mehr Make up. Weitere Auffälligkeiten können Essstörungen sein, Selbstverletzungen, Zweit- oder Dritthandys für unbekannte Zwecke, nächtliche Anrufe. Opfer ziehen sich auch meist von der Familie zurück.
Woher haben Sie Ihr Wissen?
Ich war rund 40 Jahre bei der Polizei, habe nach meiner Pensionierung fast ein Jahr in den Niederlanden gelebt und habe dort Elternabende organisiert, mit Politikern gesprochen, mit der Polizei und – ganz entscheidend – mit Opfern.
Wie viele Opfer gibt es in Deutschland?
Laut den offiziellen Zahlen des Bundeskriminalamtes gab es in den vergangenen drei Jahren drei Opfer zwischen 12 und 16 Jahren. Das Dunkelfeld muss aber enorm sein. Bei mir haben sich im vorigen Sommer in einer Woche acht Betroffene gemeldet. Derzeit melden sich fast täglich Opfer oder deren Eltern.
Eilod.de, die “Initiative für Lover Boy Opfer Deutschland” ist mittlerweile online. Außerdem gibt es in Düsseldorf ein von der Stadt gefördertes Selbsthilfe-Büro als Anlaufstelle, Telefon 0211 – 89 92 244. (pbd)