Strafprozesse dauern mitunter Jahre. Deshalb fand ich es nicht sonderlich verwunderlich, dass ich in einer Sache seit Anfang 2009 nichts mehr vom Amtsgericht gehört hatte. Damals hatte ich Einspruch gegen einen Strafbefehl eingelegt. Es ging um eine kleine Geldstrafe, verhältnismäßig läppische 40 Tagessätze. Meinem Mandanten wurde eine kleine Urkundenfälschung vorgeworfen.
Seit fast zweieinhalb Jahren war also Ruhe an der Front. Das Gericht will ja was vom Angeklagten, nicht wir vom Gericht. Außerdem ist es für einen Betroffenen immer gut, wenn zwischen Tat und Urteil möglichst viel Zeit vergeht. Das führt nämlich zwingend zur Strafmilderung, wenn es zu einer Verurteilung kommt. Deshalb drängelte ich auch nicht und weckte damit auch keine schlafenden Hunde. Stattdessen notierte ich immer wieder eine neue Vorlage in sechs Monaten, wenn meine Akte turnusmäßig auf den Tisch kam.
Am Wochenende erfuhr ich, dass der zuständige Richter keineswegs überlastet ist. Mein Mandant wurde nämlich am Samstagmorgen bei einer Verkehrskontrolle festgenommen. Gegen ihn lag seit Anfang 2009 ein Haftbefehl vor, mit dem der Richter Untersuchungshaft anordnete. Begründung: Fluchtgefahr.
Nun fragt man sich, wieso ein ansonsten im Leben stehender Bürger wegen einer Geldstrafe, die er überdies locker bezahlen kann, alles hinter sich lassen sollte. Der Richter sah es aber so. Er schrieb in den Haftbefehl, mein Mandant habe sich “abgesetzt”, damit über den Einspruch gegen den Strafbefehl nicht verhandelt werden kann. Das begründe erwähnte Fluchtgefahr. Schon diese Annahme ist ziemlich absurd. Über einen Strafbefehl kann nämlich jederzeit ohne den Angeklagten verhandelt werden. Der Angeklagte ist schon von Gesetzes wegen nicht verpflichtet, in der Hauptverhandlung zu erscheinen. Er kann sich zum Beispiel durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen.
Der Richter machte sogar Ausführungen dazu, wieso sein Haftbefehl verhältnismäßig sei. Mich überzeugte davon kein Wort. Schon die Behauptung, mein Mandant wolle eine Hauptverhandlung vermeiden, ist so schlicht an den Haaren herbeigezogen. Das Gericht hat nämlich bislang noch nicht mal einen Verhandlungstermin angesetzt, sondern nach meinem Einspruch gegen den Strafbefehl quasi als nächste Amtshandlung den Haftbefehl erlassen.
Der eigentliche Anlass für den Haftbefehl war demnach auch nicht der Umstand, dass mein Mandant eine Verhandlung geschwänzt hat, obwohl er, wie gesagt, überhaupt nicht kommen muss. Vielmehr kam wohl ein Schreiben des Gerichts, das ihn adressiert war, mit der Angabe “Empfänger unbekannt” zurück. Darauf basierte dann die Vermutung, er sei auf der Flucht.
Nun ist der Betroffene ein unauffälliger Mensch. Deshalb dauerte es mehr als zwei Jahre, bis die Polizei ihn zufällig “ergreifen” konnte. Mein Mandant war verständlicherweise völlig von den Socken, dass er auf das Polizeipräsidium gebracht und dort in eine überhitzte Zelle eingesperrt wurde.
Zum Glück gab es an diesem Tag einen Richternotdienst. Immerhin stand im Haftbefehl, die Anordnung könne außer Vollzug gesetzt werden, sofern mein Mandant eine “amtliche Meldebestätigung” vorlegt. (Ohne diesen Zusatz würde ich mir heute übrigens ernstlich überlegen, ob man hier was in Richtung Freiheitsberaubung oder Rechtsbeugung unternehmen muss.)
Eine amtliche Meldebestätigung hatte mein Mandant am Samstagmorgen nicht dabei. Aber er hatte einen neuen Personalausweis in der Tasche, ausgestellt im November 2010. Also ungefähr zwei Jahre, nachdem er sich nach Auffassung des Richters auf die Flucht begeben hat. Meine Idee war es dann, die im Ausweis vermerkte Adresse auf der Polizeiwache im Polizeipräsidium überprüfen zu lassen. Die Beamten haben ja Online-Zugriff auf die aktuellen Meldedaten.
Die Eilrichterin war damit einverstanden. Und siehe da, der Polizeicomputer bestätigte die Wohnadresse laut Personalausweis. Es dauerte nur noch fünf Minuten, bis der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt war. Mein Mandant war wieder ein freier Mann. Ich hoffe, er hat das Restwochenende genutzt, um sich von dem Schock zu erholen.
Der eine oder andere wird sich jetzt fragen, wieso ein Gericht einfach einen mehr als fragwürdigen Haftbefehl produziert und dann zweieinhalb Jahre nicht ein einziges Mal kontrolliert, ob die Voraussetzungen (noch) vorliegen. Immerhin hätte etwa eine Meldeanfrage schon sehr bald zu der Erkenntnis geführt, dass mein Mandant einen ordentlich gemeldeten Wohnsitz hat, an dem man ihm Gerichtspost zustellen kann. Jedenfalls wäre es ihm dann nicht vorzuwerfen, wenn mal wieder ein verpeilter Zusteller den Briefkasten nicht findet.
Auf die Frage habe ich leider auch keine plausible Antwort. Nur Vermutungen über die Einstellung mancher Richter zum gemeinen Volk, die ich im Detail aber beim besten Willen hier nicht äußern möchte.