Es ist traurig, aber wahr. Das Bundesverfassungsgericht tritt den Bürgerrechten mal wieder in den Rücken. Gleichzeitig ermutigt es jene Polizisten, Staatsanwälte und Richter, die gerne ein Auge zudrücken, wenn die Strafprozessordnung ihren Ermittlungen im Wege steht. Im Falle rechtswidrig entnommener Blutproben und der damit verbundenen Umgehung des Richtervorbehalts sehen die Karlsruher Richter nämlich überhaupt keinen Anlass, die dadurch gewonnen Beweise für unverwertbar zu erklären.
Dabei schockiert mich weniger das Ergebnis im Einzelfall als die Begründung, die das Gericht hierfür findet.
Ausgangspunkt waren Verkehrskontrollen. In einem Fall war streitig, ob Polizeibeamte überhaupt versucht haben, für die Blutprobe bei einem Autofahrer einen Richter zu fragen. Sie behaupteten das zwar, der Kontaktversuch war aber in der Akte nicht dokumentiert. In einem anderen Fall konnte ein Richter nicht erreicht werden, weil es keinen nächtlichen Eildienst gab.
Das Bundesverfassungsgericht sieht zwar einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richtervorbehalt, lässt die Verwertung der Blutproben aber uneingeschränkt zu. Das Gericht erläutert zur Begründung mal wieder seine grundsätzliche Haltung. Eben diese Haltung ist für mich der Grund, dass die Rechte des Beschuldigten bei uns immer weniger geachtet werden. Das gilt nicht nur für Verkehrskontrollen, sondern auch für heftigere Maßnahmen. Hausdurchsuchungen zum Beispiel. Oder Festnahmen. Das Verfassungsgericht:
Insofern gehen die Strafgerichte in gefestigter, willkürfreier … Rechtsprechung davon aus, dass dem Strafverfahrensrecht ein allgemein geltender Grundsatz, dass jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht, fremd ist.
Der Grund, warum ein Verstoß gegen Vorschriften keine Konsequenzen hat, ist das Strafverfolgungsinteresse des Staates. Dieses wird bei uns eben über alles gesetzt. Oder, um es mit den Worten des Gerichts zu sagen:
Die Annahme eines Verwertungsverbots schränkt … eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts ein, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle hierfür bedeutsamen Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat.
Das hat folgende Konsequenz:
Daran gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist.
Übersetzt bedeutet dies: Wenn beispielsweise eine Wohnung zu Unrecht durchsucht, ein Zeuge illegal zum Reden gebracht oder ein Beschuldigter ohne tragfähige gesetzliche Haftgründe zur Erzielung eines Geständnisses in Untersuchungshaft gesteckt wird, verstößt dies gegen die Strafprozessordnung, bleibt aber für das Verfahren ohne Folgen. Das gesetzeswidrige Verhalten hat laut Gericht nur “im Einzelfall” und “ausnahmsweise” Konseqenzen.
Solche Vorgaben kann man ruhig mal auf andere Lebensbereiche übertragen. Bußgelder für Wirte und Bäcker werden nicht fällig, wenn die Kunden kotzen, sondern erst ab drei Wochen stationärer Behandlung. Autofahrer zahlen für Tempoverstöße nur, wenn die Raserei zu einem Blechschaden über 5.000 Euro führt. Mir fallen noch andere Beispiele ein, aber ich will nicht ausfallend werden.
Bei den Blutproben sattelt das Bundesverfassungsgericht auf seine bekannte Haltung sogar noch auf. Die Richter widmen sich nämlich genüsslich der Frage, ob der Richtervorbehalt zum “rechtsstaatlich Unverzichtbaren” gehört. Das verneinen sie, was im Ergebnis sicher richtig ist. Das führt, und das ist der wirklich perfide Hintergedanke, zu einer Einführung von Bürgerrechten zweiter Klasse:
Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht – auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte – ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde.
Dies macht das Bundesverfassungsgericht dann an der Frage fest, wie tief die Blutprobe ohne richterliche Zustimmung in Grundrechte eingreift. Die Schlussfolgerung überrascht kaum:
Eine Blutentnahme zum Zwecke der Aufklärung eines Sachverhalts tastet das Grundrecht nicht in seinem Wesensgehalt an und stellt auch keinen so schwerwiegenden Eingriff dar, dass aus dem Gesichtspunkt der Eingriffstiefe heraus ein Richtervorbehalt zu verlangen wäre. Der Richtervorbehalt nach § 81a Abs. 2 StPO beruht auf einer Entscheidung des Gesetzgebers, nicht auf einer zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgabe.
Mit anderen Worten: Bürgerrechten, mit denen der Bundestag über die Minimal-Vorgaben des Grundgesetzes hinausgeht, haftet der Geruch der Minderwertigkeit an. Wir dürfen sie offenbar als Zuckerbrot verstehen. Eine Art juristischer Boni, die unter dem ständigen Vorbehalt des Widerrufs oder gar der nachträglichen Aberkennung durch den zuständigen Polizeibeamten stehen.
Ich wiederhole es: Jene Beamte, die sich bei passender Gelegenheit nicht für Verfahrensrechte interessieren und denen der Zweck die Mittel heiligt, lesen solche Beschlüsse wie eine Gebrauchsanleitung. Sie bekommen hier von ganz oben erklärt, dass Fehlverhalten nur in krassen Ausnahmefällen (das Verfassungsgericht nennt diese “Willkür”) zu Konsequenzen führt. Das ist eine grob fahrlässige Ermutigung, den Rechtsstaat im Interesse der “Wahrheitsfindung” zu strapazieren.
Und so passiert es auch Tag für Tag. Nach meiner Erfahrung nimmt die Zahl der Beamten zu, für die die Strafprozessordnung ein Schönwetter-Kompendium ist. Wer kann es ihnen auch verdenken? Schließlich rechtfertigt der “Erfolg” in Form einer Verurteilung nachträglich (fast) jede Verletzung von Bürgerrechten. (Und führt im übrigen auch dazu, dass die verbleibende Dienstpflichtverletzung nicht zu hoch gehängt wird, sofern sich überhaupt jemand dafür interessiert.)
An dieser Erosion unserer Rechte wird sich so lange nichts ändern, wie die Verantwortlichen weiter damit rechnen können, dass Gesetzesverstöße nachträglich abgenickt werden. Was aus Karlsruhe aber kommt, bestärkt die schwarzen Schafe sogar noch. Das ist übrigens auch ein Schlag ins Gesicht all jener Ermittler, die sich nach Kräften ans Gesetz halten. Zum Glück stellen sie noch die Mehrheit. Am Ende sind sie aber auch die Blöden, neben uns Bürgern.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. Februar 2011, Aktenzeichen 2 BvR 1596/10