Unter dem Titel „Wenn Menschenrechte nicht gefallen“ habe ich vor drei Wochen einen Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz kritisiert. Das Gericht lehnt mit fadenscheinigen Gründen die Entlassung eines Mannes ab, der seit mehr als zehn Jahren in Sicherungsverwahrung sitzt. Die Koblenzer Justiz stellt sich damit gegen eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der EGMR hatte die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus für unzulässig erklärt, weil sie eine nachträglich eingeführte Strafe ist. Damit müssten alle Verurteilten entlassen werden, deren Sicherungsverwahrung vor Aufhebung der Höchstgrenze von zehn Jahren angeordnet wurde.
Dass es auch anders und, wie ich meine, rechtsstaatlicher geht, zeigt nun eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt. Die Richter ordneten heute die sofortige Freilassung eines Betroffenen an. Entgegen ihren Koblenzer Kollegen veranstalten die Frankfurter Juristen keinen Eiertanz um die Frage, ob die Europäische Menschenrechtskonvention in Deutschland nicht mehr gilt als jede einfache andere Rechtsnorm, zum Beispiel das Gesetz über den Verkehr mit Milch, Milcherzeugnissen und Fetten (MilchFettG).
Das Oberlandesgericht Frankfurt leitet nämlich aus der Zusage in Artikel 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wonach allen Bürgern die darin niedergelegten Rechte garantiert werden, jedenfalls einen Anspruch auf jederzeitige und sofortige Umsetzung dieser Zusage ab:
Die Vertragsstaaten der MRK haben sich verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Diese Pflicht gilt unmittelbar für alle staatlichen Organe, auch die Gerichte. Diese müssen im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ihrer Bindung an Gesetz und Recht zunächst in der entschiedenen Sache dem Urteil des EGMR Rechnung tragen, also die festgestellte Konventionsverletzung beenden.
Auch wenn die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur direkt im Ausgangsfall wirke, sei doch aus der Menschenrechtskonvention die unbedingte Verpflichtung des verurteilten Mitgliedstaats abzuleiten, festgestellte Konventionsverletzungen auch in Parallelfällen zu beenden.
Das Koblenzer Oberlandesgericht hatte dagegen spitzfindig argumentiert, der Wortlaut des Verlängerungsgesetzes für die Sicherungsverwahrung, welches formal auf der gleichen Stufe wie die Menschenrechtskonvetion stehe, lasse nun mal keinen Spielraum zu. Deshalb müsse erst das Gesetz geändert werden, dann könne man die Vorgaben des Gerichtshofs umsetzen. Mit anderen Worten: Menschenrechte dürfen erst mal weiter verletzt werden, bis das Gesetz, welches formal die Verletzung dieser Rechte legitimiert, formal außer Kraft gesetzt worden ist. Wenn das nicht mal eine Steilvorlage für andere Fälle ist, in denen es angezeigt erscheint, elementare Rechte „vorübergehend“ nicht zu gewähren.
Mir ist die Frankfurter Entscheidung wesentlich sympathischer. Weil sie klipp und klar sagt, dass Menschenrechte Vorrang und Vorfahrt haben – auch wenn das Ergebnis vielleicht nicht unbedingt gefällt.