Normalerweise kenne ich die Situation andersrum. Die Zeugen sagen alle zu Gunsten des Angeklagten aus; die Anklage zerbröselt. Staatsanwälte, die keine Lust auf eine Einstellung oder eine andere kreative Lösung haben, lehnen sich dann gern zurück. Mit dem Hinweis, ein Zeuge sei ja nicht erschienen. „Auf den Zeugen kann ich aber nicht verzichten“, heißt es dann. Auch durchaus zu Recht. Manchmal überrascht es ja wirklich, was Zeugen so zu berichten haben…
Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, dass ein Richter in dieser Situation den Staatsanwalt angepflaumt hätte, die Sache sei ja schon so klar, der Zeuge werde nicht gebraucht (wozu wurde er dann überhaupt geladen?), es werde jetzt ein Urteil verkündet.
Das passiert nur, wenn es umgekehrt läuft. Heute war ich in der unerfreulichen Situation, dass mein Mandant doch stark belastet wurde. Einer der Augenzeugen war allerdings nicht erschienen. „Auf den Zeugen kann ich aber nicht verzichten.“ Meine Worte lösten dann bei der Richterin den geschilderten Missmut aus.
Gut, ich mache den Job schon länger. Ich bat dann halt um zehn Minuten Zeit, um einen Beweisantrag zu formulieren. Der an sich unnötig war. Die Aufklärungspflicht hatte sich ja schon durch die Ladung des Zeugen soweit verdichtet, dass kein ernsthaft bemühtes Gericht mehr von der Vernehmung abgesehen hätte, so lange nicht alle Beteiligten auf den Zeugen verzichten.
Die mir entgegengebrachte Stimmung im Gerichtssaal war dann doch deutlich unterkühlt. Ich war erstaunt, denn jeder von uns macht ja nur seinen Job. Aber in dem Gerichtssaal ist es anscheinend nicht gern gesehen, wenn ein Anwaltsbärchen nicht nach der Pfeife tanzt.
Ich ging sogar davon aus, dass der Beweisantrag abgebügelt wird. Was dann allerdings nicht der Fall war. Vielmehr erntete ich auf die Verlesung des Beweisantrags nur noch ein schmallippiges: „Das war’s dann für heute.“
Zu einer Reaktion auf meinen, wie immer, höflichen Abschiedsgruß reichte es allerdings nicht mehr.