Deutschland muss beim EU-Vertrag nachbessern

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute entschieden,
dass das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon mit dem Grundgesetz
vereinbar ist.

Dagegen verstößt das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union insoweit gegen Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG, als Bundestag und Bundesrat im Rahmen von europäischen Rechtssetzungs- und Vertragsänderungsverfahren keine
hinreichenden Beteiligungsrechte eingeräumt wurden. Die Ratifikationsurkunde der Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von Lissabon darf solange nicht hinterlegt werden, wie die von Verfassungs wegen erforderliche gesetzliche Ausgestaltung der parlamentarischen Beteiligungsrechte nicht in Kraft getreten ist. Die Entscheidung ist im
Ergebnis einstimmig, hinsichtlich der Gründe mit 7:1 Stimmen ergangen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Zentrale Gesichtspunkte des Urteils im Überblick

Das Urteil konzentriert sich auf den Zusammenhang zwischen dem vom
Grundgesetz vorgeschriebenen demokratischen System auf Bundesebene und
dem erreichten Niveau selbständiger Herrschaftsausübung auf europäischer
Ebene. Das Strukturproblem der Europäischen Union wird in den
Mittelpunkt der Verfassungsprüfung gestellt: Der Umfang politischer
Gestaltungsmacht der Union ist – nicht zuletzt durch den Vertrag von
Lissabon – stetig und erheblich gewachsen, so dass inzwischen in einigen
Politikbereichen die Europäische Union einem Bundesstaat entsprechend –
staatsanalog – ausgestaltet ist. Demgegenüber bleiben die internen
Entscheidungs- und Ernennungsverfahren überwiegend völkerrechtsanalog
dem Muster einer internationalen Organisation verpflichtet; die
Europäische Union ist weiterhin im Wesentlichen nach dem Grundsatz der
Staatengleichheit aufgebaut.

Solange im Rahmen einer europäischen Bundesstaatsgründung nicht ein
einheitliches europäisches Volk als Legitimationssubjekt seinen
Mehrheitswillen gleichheitsgerecht politisch wirksam formulieren kann,
bleiben die in den Mitgliedstaaten verfassten Völker der Europäischen
Union die maßgeblichen Träger der öffentlichen Gewalt, einschließlich
der Unionsgewalt. Für den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat
wäre in Deutschland eine Verfassungsneuschöpfung notwendig, mit der ein
erklärter Verzicht auf die vom Grundgesetz gesicherte souveräne
Staatlichkeit einherginge. Ein solcher Akt liegt hier nicht vor. Die
Europäische Union stellt weiterhin einen völkerrechtlich begründeten
Herrschaftsverband dar, der dauerhaft vom Vertragswillen souverän
bleibender Staaten getragen wird. Die primäre Integrationsverantwortung
liegt in der Hand der für die Völker handelnden nationalen
Verfassungsorgane. Bei wachsenden Kompetenzen und einer weiteren
Verselbständigung der Unionsorgane sind Schritt haltende Sicherungen
erforderlich, um das tragende Prinzip der begrenzten und von den
Mitgliedstaaten kontrollierten Einzelermächtigung zu wahren. Auch sind
eigene für die Entfaltung der demokratischen Willensbildung wesentliche
Gestaltungsräume der Mitgliedstaaten bei fortschreitender Integration zu
erhalten. Insbesondere ist zu gewährleisten, dass die
Integrationsverantwortung durch die staatlichen Vertretungsorgane der
Völker wahrgenommen werden kann.

Durch den Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments kann die
Lücke zwischen dem Umfang der Entscheidungsmacht der Unionsorgane und
der demokratischen Wirkmacht der Bürger in den Mitgliedstaaten
verringert, aber nicht geschlossen werden. Das Europäische Parlament ist
weder in seiner Zusammensetzung noch im europäischen Kompetenzgefüge
dafür hinreichend gerüstet, repräsentative und zurechenbare
Mehrheitsentscheidungen als einheitliche politische Leitentscheidungen
zu treffen. Es ist gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen nicht
gleichheitsgerecht gewählt und innerhalb des supranationalen
Interessenausgleichs zwischen den Staaten nicht zu maßgeblichen
politischen Leitentscheidungen berufen. Es kann deshalb auch nicht eine
parlamentarische Regierung tragen und sich im
Regierungs-Oppositions-Schema parteipolitisch so organisieren, dass eine
Richtungsentscheidung europäischer Wähler politisch bestimmend zur
Wirkung gelangen könnte. Angesichts dieses strukturellen, im
Staatenverbund nicht auflösbaren Demokratiedefizits dürfen weitere
Integrationsschritte über den bisherigen Stand hinaus weder die
politische Gestaltungsfähigkeit der Staaten noch das Prinzip der
begrenzten Einzelermächtigung aushöhlen.

Die Völker der Mitgliedstaaten sind Träger der verfassungsgebenden
Gewalt. Das Grundgesetz erlaubt es den besonderen Organen der
Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung nicht, über
die grundlegenden Bestandteile der Verfassung, also über die
Verfassungsidentität zu verfügen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3, Art. 79 Abs. 3
GG). Die Verfassungsidentität ist unveräußerlicher Bestandteil der
demokratischen Selbstbestimmung eines Volkes. Zur Wahrung der
Wirksamkeit des Wahlrechts und zur Erhaltung der demokratischen
Selbstbestimmung ist es nötig, dass das Bundesverfassungsgericht im
Rahmen seiner Zuständigkeit darüber wacht, dass die Gemeinschafts- oder
die Unionsgewalt nicht mit ihren Hoheitsakten die Verfassungsidentität
verletzt und nicht ersichtlich die eingeräumten Kompetenzen
überschreitet. Die mit dem Vertrag von Lissabon noch einmal verstärkte
Übertragung von Zuständigkeiten und die Verselbständigung der
Entscheidungsverfahren setzt deshalb eine wirksame Ultra-vires-Kontrolle
und eine Identitätskontrolle von Rechtsakten europäischen Ursprungs im
Anwendungsbereich der Bundesrepublik Deutschland voraus.

2. Zum Prüfungsmaßstab

a) Das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon wird vom Gericht am
Maßstab des Wahlrechts gemessen. Das Wahlrecht ist als
grundrechtsgleiches Recht mit der Verfassungsbeschwerde rügefähig (Art.
38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Es
konkretisiert den Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung, auf freie
und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt sowie
auf die Einhaltung des Demokratiegebots einschließlich der Achtung der
verfassungsgebenden Gewalt des Volkes. Die Prüfung einer Verletzung des
Wahlrechts umfasst hier auch Eingriffe in die Grundsätze, die Art. 79
Abs. 3 GG als Identität der Verfassung festschreibt. Das Recht der
Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die sie
betreffende öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist
in der Würde des Menschen verankert und elementarer Bestandteil des
Demokratieprinzips. Das Demokratieprinzip ist nicht abwägungsfähig. Eine
Änderung des Grundgesetzes, durch welche die in Art. 1 und Art. 20 GG
niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig (Art. 79 Abs. 3
GG). Mit der sogenannten Ewigkeitsgarantie wird die Verfügung über die
Identität der freiheitlichen Verfassungsordnung auch dem
verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen. Die
verfassungsgebende Gewalt hat den Vertretern und Organen des Volkes kein
Mandat erteilt, die nach Art. 79 Abs. 3 GG grundlegenden
Verfassungsprinzipien zu verändern.

b) Zugleich ist die grundgesetzliche Ausgestaltung des
Demokratieprinzips offen für das Ziel, Deutschland in eine
internationale und europäische Friedensordnung einzufügen. Die deutsche
Verfassung ist auf Öffnung der staatlichen Herrschaftsordnung für das
friedliche Zusammenwirken der Nationen und die europäische Integration
gerichtet. Weder die gleichberechtigte Integration in die Europäische
Union noch die Einfügung in friedenserhaltende Systeme wie die Vereinten
Nationen führen dabei notwendig zu einer Veränderung im System
öffentlicher Gewaltausübung der Bundesrepublik Deutschland. Es handelt
sich vielmehr um freiwillige, gegenseitige und gleichberechtigte
Bindung, die den Frieden sichert und die politischen
Gestaltungsmöglichkeiten durch gemeinsames koordiniertes Handeln stärkt.
Der aus Art. 23 Abs. 1 GG und der Präambel folgende Verfassungsauftrag
zur Verwirklichung eines vereinten Europas bedeutet für die deutschen
Verfassungsorgane, dass die Beteiligung an der europäischen Integration
nicht in ihrem politischen Belieben steht. Das Grundgesetz will eine
internationale Friedensordnung und eine europäische Integration: Es gilt
deshalb nicht nur der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern
auch der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit.

c) Die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die
Europäische Union nach Art. 23 Abs. 1 GG steht allerdings unter der
Bedingung, dass die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage
eines verantwortbaren Integrationsprogramms nach dem Prinzip der
begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der
verfassungsrechtlichen Identität als Mitgliedstaat gewahrt bleibt und
die Bundesrepublik Deutschland ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher
politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht
verliert. Art. 23 Abs. 1 GG und die Präambel sagen nichts aus über den
endgültigen Charakter der politischen Verfasstheit Europas. Das
Grundgesetz ermächtigt mit Art. 23 GG zur Beteiligung und Entwicklung
einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union. Der Begriff
des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän
bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt
ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der
Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die
staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte
demokratischer Legitimation bleiben. Die Europäische Union muss sowohl
in Art und Umfang als auch in der organisatorischen und
verfahrensrechtlichen Ausgestaltung demokratischen Grundsätzen
entsprechen (Art. 23 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 79 Abs. 3 GG). Dies bedeutet zunächst, dass die europäische
Integration nicht zur Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystems
in Deutschland führen darf. Zwar müssen nicht eine bestimmte Summe oder
bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben. Die
europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner
Staaten darf jedoch nicht so verwirklicht werden, dass in den
Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der
wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr
bleibt. Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände
der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten
Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit
prägen, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer
Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse
angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch
organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten.
Sofern in diesen besonders demokratiebedeutsamen Sachbereichen eine
Übertragung von Hoheitsrechten überhaupt erlaubt ist, ist eine enge
Auslegung geboten. Dies betrifft insbesondere die Strafrechtspflege, die
polizeiliche und militärische Verfügung über das Gewaltmonopol,
fiskalische Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben, die
sozialpolitische Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie kulturell
bedeutsame Entscheidungen wie Erziehung, Bildung, Medienordnung und
Umgang mit Religionsgemeinschaften.

d) Das Grundgesetz ermächtigt die deutschen Staatsorgane nicht,
Hoheitsrechte derart zu übertragen, dass aus ihrer Ausübung heraus
eigenständig weitere Zuständigkeiten begründet werden können. Es
untersagt die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz. Das Prinzip der
begrenzten Einzelermächtigung ist deshalb nicht nur ein
europarechtlicher Grundsatz (Art. 5 Abs. 1 EGV; Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und
Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des
Vertrags von Lissabon ), sondern nimmt – ebenso wie die
Pflicht der Europäischen Union, die nationale Identität der
Mitgliedstaaten zu achten (Art. 6 Abs. 3 EUV; Art. 4 Abs. 2 Satz 1
EUV-Lissabon) – mitgliedstaatliche Verfassungsprinzipien auf. Das
Integrationsprogramm der Europäischen Union muss deshalb hinreichend
bestimmt sein. Sofern die Mitgliedstaaten das Vertragsrecht so
ausgestalten, dass unter grundsätzlicher Fortgeltung des Prinzips der
begrenzten Einzelermächtigung eine Veränderung des Vertragsrechts ohne
Ratifikationsverfahren herbeigeführt werden kann, obliegt neben der
Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften eine besondere
Verantwortung im Rahmen der Mitwirkung, die in Deutschland
innerstaatlich den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG genügen muss
(Integrationsverantwortung). Das Zustimmungsgesetz zu einem europäischen
Änderungsvertrag und die innerstaatliche Begleitgesetzgebung müssen so
beschaffen sein, dass die europäische Integration weiter nach dem
Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erfolgt, ohne dass für die
Europäische Union die Möglichkeit besteht, sich der Kompetenz-Kompetenz
zu bemächtigen oder die integrationsfeste Verfassungsidentität der
Mitgliedstaaten, hier des Grundgesetzes, zu verletzen. Für Grenzfälle
des noch verfassungsrechtlich Zulässigen muss der deutsche Gesetzgeber
mit seinen die Zustimmung begleitenden Gesetzen Vorkehrungen dafür
treffen, dass die Integrationsverantwortung der Gesetzgebungsorgane sich
hinreichend entfalten kann.

e) Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Rechtsakte der europäischen
Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschafts- und
unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 2 EGV; Art. 5 Abs.
1 Satz 2 und Abs. 3 EUV-Lissabon) in den Grenzen der ihnen im Wege der
begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten
(Ultra-vires-Kontrolle). Darüber hinaus prüft das
Bundesverfassungsgericht, ob der unantastbare Kerngehalt der
Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in
Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist (Identitätskontrolle). Die
Ausübung dieser verfassungsrechtlich geforderten Prüfungskompetenzen
wahrt die von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkannten
grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen souveräner
Mitgliedstaaten auch bei fortschreitender Integration. Sie folgt bei der
konkreten Ausübung dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des
Grundgesetzes.

3. Zur Subsumtion

a) Gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon bestehen keine
durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

aa) Die Europäische Union erreicht auch bei Inkrafttreten des Vertrags
von Lissabon noch keine Ausgestaltung, die staatsanalog ist und deshalb
dem Legitimationsniveau einer staatlich verfassten Demokratie
entsprechen müsste. Sie ist kein Bundesstaat, sondern bleibt ein Verbund
souveräner Staaten unter Geltung des Prinzips der begrenzten
Einzelermächtigung. Das Europäische Parlament ist kein
Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes, sondern ein
supranationales Vertretungsorgan der Völker der Mitgliedstaaten, so dass
der allen europäischen Staaten gemeinsame Grundsatz der Wahlgleichheit
auf das Europäische Parlament keine Anwendung findet. Andere Regelungen
des Vertrags von Lissabon, wie die doppelt-qualifizierte Mehrheit im Rat
(Art. 16 Abs. 4 EUV-Lissabon, Art. 238 Abs. 2 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union ), die partizipativen,
assoziativen und direkten Demokratieelemente (Art. 11 EUV-Lissabon)
sowie die institutionelle Anerkennung der nationalen Parlamente (Art. 12
EUV-Lissabon) können das – gemessen an staatlichen
Demokratieanforderungen – bestehende Defizit der europäischen
Hoheitsgewalt nicht aufwiegen, das Legitimationsniveau des
Staatenverbundes aber gleichwohl erhöhen.

bb) Die Bundesrepublik Deutschland bleibt bei Inkrafttreten des Vertrags
von Lissabon ein souveräner Staat. Insbesondere bleibt die deutsche
Staatsgewalt in ihrer Substanz geschützt. Die Verteilung und Abgrenzung
der Zuständigkeiten der Europäischen Union von denen der Mitgliedstaaten
erfolgt nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und weiteren
materiell-rechtlichen Schutzmechanismen, insbesondere
Zuständigkeitsausübungsregeln. Die so kontrollierte und verantwortbare
Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union wird durch
einzelne Vorschriften des Vertrags von Lissabon nicht in Frage gestellt.
Dies gilt zunächst für das vereinfachte Änderungsverfahren (vgl.
insbesondere Art. 48 Abs. 6 EUV-Lissabon). Die „Zustimmung“ der
Bundesrepublik Deutschland im vereinfachten Änderungsverfahren setzt ein
Gesetz im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG als lex specialis zu Art.
59 Abs. 2 GG voraus.

cc) Soweit die allgemeine Brückenklausel des Art. 48 Abs. 7 EUV-Lissabon
den Übergang vom Einstimmigkeitsprinzip zum qualifizierten
Mehrheitsprinzip in der Beschlussfassung des Rates oder den Übergang vom
besonderen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ermöglicht, handelt
es sich ebenfalls um eine nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG zu beurteilende
Vertragsänderung. Das Ablehnungsrecht der nationalen Parlamente (Art. 48
Abs. 7 UAbs. 3 EUV-Lissabon) ist kein ausreichendes Äquivalent zum
Ratifikationsvorbehalt. Der deutsche Regierungsvertreter im Europäischen
Rat darf einer Vertragsänderung durch Anwendung der allgemeinen
Brückenklausel deshalb nur zustimmen, wenn der Bundestag und der
Bundesrat innerhalb einer noch auszugestaltenden Frist, die an die
Zwecksetzung des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV-Lissabon angelehnt ist, ein
Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG erlassen haben. Dies gilt ebenso
für den Fall, dass von der speziellen Brückenklausel nach Art. 81 Abs. 3
UAbs. 2 AEUV Gebrauch gemacht wird.

dd) Ein Gesetz im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht
erforderlich, soweit spezielle Brückenklauseln sich auf Sachbereiche
beschränken, die durch den Vertrag von Lissabon bereits hinreichend
bestimmt sind, und kein Ablehnungsrecht der nationalen Parlamente
vorsehen. Auch in diesen Fällen obliegt es allerdings dem Bundestag und,
soweit die Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, dem
Bundesrat, die Integrationsverantwortung in anderer geeigneter Weise
wahrzunehmen. Das Vetorecht im Rat darf auch bei sachlich in den
Verträgen bereits bestimmten Gegenständen nicht ohne Beteiligung der
zuständigen Gesetzgebungsorgane aufgegeben werden. Der deutsche
Regierungsvertreter im Europäischen Rat oder Rat darf deshalb einer
Änderung des Primärrechts durch Anwendung einer der speziellen
Brückenklauseln nur dann für die Bundesrepublik Deutschland zustimmen,
wenn der Deutsche Bundestag und, soweit die Regelungen über die
Gesetzgebung dies erfordern, der Bundesrat innerhalb einer noch
auszugestaltenden Frist, die an die Zwecksetzung des Art. 48 Abs. 7
UAbs. 3 EUV-Lissabon angelehnt ist, ihre Zustimmung zu diesem Beschluss
erteilt haben.

ee) Auch die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV kann in einer Weise
ausgelegt werden, dass das in den Vorschriften in Aussicht genommene
Integrationsprogramm durch die deutschen Gesetzgebungsorgane noch
vorhersehbar und bestimmbar ist. In Anbetracht der Unbestimmtheit
möglicher Anwendungsfälle setzt die Inanspruchnahme der
Flexibilitätsklausel verfassungsrechtlich die Ratifikation durch den
Bundestag und den Bundesrat auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Satz 2
GG voraus.

ff) Die verfassungsrechtlich gebotene Kontrollkompetenz des
Bundesverfassungsgerichts ist durch die der Schlussakte zum Vertrag von
Lissabon beigefügte Erklärung Nr. 17 zum Vorrang nicht berührt. Der
Grund und die Grenze für die Geltung des Rechts der Europäischen Union
in der Bundesrepublik Deutschland ist der im Zustimmungsgesetz
enthaltene Rechtsanwendungsbefehl, der nur im Rahmen der geltenden
Verfassungsordnung erteilt werden kann. Es ist insoweit nicht von
Bedeutung, ob der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, den das
Bundesverfassungsgericht bereits für das Gemeinschaftsrecht im Grundsatz
anerkannt hat, in den Verträgen selbst oder in der der Schlussakte zum
Vertrag von Lissabon beigefügten Erklärung Nr. 17 vorgesehen ist.

gg) Die durch den Vertrag von Lissabon neu begründeten oder vertieften
Zuständigkeiten in den Bereichen der Justiziellen Zusammenarbeit in
Strafsachen und Zivilsachen, der Außenwirtschaftsbeziehungen, der
Gemeinsamen Verteidigung sowie in sozialen Belangen können im Sinne
einer zweckgerechten Auslegung des Vertrages und müssen zur Vermeidung
drohender Verfassungswidrigkeit von den Organen der Europäischen Union
in einer Weise ausgeübt werden, dass auf mitgliedstaatlicher Ebene
sowohl im Umfang als auch in der Substanz noch Aufgaben von
hinreichendem Gewicht bestehen, die rechtlich und praktisch
Voraussetzung für eine lebendige Demokratie sind. Dabei ist insbesondere
Folgendes zu beachten:

– Wegen der besonders empfindlichen Berührung der demokratischen
Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnormen sind die
entsprechenden vertraglichen Kompetenzgrundlagen strikt – keinesfalls
extensiv – auszulegen und ihre Nutzung bedarf besonderer
Rechtfertigung.

– Die Nutzung der dynamischen Blankettermächtigung nach Art. 83 Abs. 1
UAbs. 3 AEUV, „je nach Entwicklung der Kriminalität“ eine Ausdehnung
des Katalogs besonders schwerer grenzüberschreitender Straftaten
vorzunehmen, entspricht in der Sache einer Erweiterung der
Zuständigkeiten der Europäischen Union und unterliegt deshalb dem
Gesetzesvorbehalt des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG.

– Im Bereich der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sind
zusätzlich besondere Anforderungen an die Regelungen zu stellen, die
einem Mitgliedstaat spezielle Rechte im Gesetzgebungsverfahren
einräumen (Art. 82 Abs. 3, Art. 83 Abs. 3 AEUV: sogenanntes
Notbremseverfahren). Das notwendige Maß an demokratischer Legitimation
über die mitgliedstaatlichen Parlamente lässt sich aus dem Blickwinkel
des deutschen Verfassungsrechts nur dadurch gewährleisten, dass der
deutsche Vertreter im Rat die in Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3
AEUV genannten mitgliedstaatlichen Rechte nur nach Weisung des
Bundestages, und soweit die Regelungen über die Gesetzgebung dies
erfordern, des Bundesrates ausübt. – Auch bei Inkrafttreten des
Vertrags von Lissabon besteht der konstitutive Parlamentsvorbehalt für
den Auslandseinsatz der Streitkräfte fort. Der Vertrag von Lissabon
überträgt der Europäischen Union keine Zuständigkeit, auf die
Streitkräfte der Mitgliedstaaten ohne Zustimmung des jeweils
betroffenen Mitgliedstaats oder seines Parlaments zurückzugreifen. Er
beschränkt auch die sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten des
Deutschen Bundestages nicht in einem solchen Umfang, dass das
Sozialstaatsprinzip (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79
Abs. 3 GG) in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise beeinträchtigt
und insoweit notwendige demokratische Entscheidungsspielräume
unzulässig vermindert wären.

b) Gegen das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23, 45 und
93) bestehen ebenfalls keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen
Bedenken. Eine Verletzung demokratischer Grundsätze nach Art. 79 Abs. 3
GG erfolgt weder durch Art. 23 Abs. 1a GG n.F., der das Recht zur
Erhebung der Subsidiaritätsklage als Minderheitenrecht ausgestaltet und
das Quorum auf ein Viertel der Mitglieder festlegt, noch durch Art. 45
Satz 3 GG n.F.

c) Dagegen verstößt das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der
Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der
Europäischen Union insoweit gegen Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art.
23 Abs. 1 GG, als Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages und des
Bundesrates nicht in dem von Verfassungs wegen erforderlichen Umfang
ausgestaltet worden sind. Gestalten die Mitgliedstaaten auf der
Grundlage des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung das europäische
Vertragsrecht in einer Art und Weise aus, dass eine Veränderung des
Vertragsrechts bereits ohne Ratifikationsverfahren allein oder
maßgeblich durch die Organe der Europäischen Union – wenngleich unter
dem Einstimmigkeitserfordernis im Rat – herbeigeführt werden kann,
obliegt den nationalen Verfassungsorganen eine besondere Verantwortung
im Rahmen der Mitwirkung. Diese Integrationsverantwortung muss in
Deutschland innerstaatlich den verfassungsrechtlichen Anforderungen
insbesondere des Art. 23 Abs. 1 GG genügen.

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