Der Vorsitzende einer Strafkammer rief letzten Freitag in meinem Büro an. Er fragte meine Sekretärin, ob ich heute, also genau eine Woche später, noch was frei habe. Am frühen Vormittag ging es, also trug meine Mitarbeiterin den Hauptverhandlungstermin im Kalender ein. Die schriftliche Ladung kam am Mittwoch nachmittag bei uns an. Ich habe sie gestern nachmittag, als ich von Terminen zurückkam, gesehen.
Ich also heute zum Gerichtstermin. Wer war nicht da? Der Angeklagte. Es steht noch nicht mal fest, ob er die Ladung erhalten hat. Eine Zustellungsurkunde war in der Gerichtsakte nicht aufzufinden. Wäre ja auch verwunderlich, denn wesentlich früher als ich dürfte der Angeklagte die Ladung keinesfalls im Briefkasten gehabt haben. Wenn der private Zustelldienst des Gerichts so lange mit der Rücksendung von Quitttungen wie mit dem Austragen der Post braucht, wird daraus vor Mitte nächster Woche ohnehin nichts.
Dann irritierte mich der Vorsitzende mit einem Satz. Oder versuchte es zumindest. „Ich gehe ja eigentlich davon aus, dass Verteidiger ab und zu Kontakt mit ihren Mandanten haben.“
Offenbar wollte er hören, ob und wie ich versucht habe, den Angeklagten über den Termin zu informieren. Ich beschränkte mich auf zwei Hinweise: Ich sehe keinen Grund, mich zum Ob und Wie der Kommunikation mit meinem Mandanten zu äußern. Überdies sehe ich nicht, dass ich für gerichtliche Ladungen und die Einhaltung gesetzlicher Ladungsfristen zuständig bin.
Der Hintergrund der Richterworte ist klar. Wenn der Angeklagte von einem Termin weiß, aber nicht kommt, kann man ihm unter Umständen auch einen Strick daraus drehen, selbst wenn die gesetzliche Ladungsfrist von einer Woche nicht eingehalten ist. Hier lag zwischen der möglichen Zustellung und dem Termin allenfalls ein Tag; die Frist ist also nicht eingehalten.
Grundsätzlich hat der Angeklagte das Recht, bei Nichteinhaltung der Ladungsfrist Vertagung zu verlangen. Weiß er allerdings nachweislich von dem Termin, muss das Gericht zwar auch vertagen, kann aber mit einigem bösen Willen und unter Verdrängung eigener Versäumnisse (gesetzeswidrige Ladungsfrist) das Fernbleiben trotzdem als „unentschuldigt“ werten – und sich nette Zwangsmittel überlegen. Einen Vorführhaftbefehl zum Beispiel.
Dieser Haftbefehl würde mit einiger Sicherheit von der Beschwerdeinstanz aufgehoben. Stichwort: Verhältnismäßigkeit.
Ich fand es dennoch interessant, wie fast beiläufig versucht wurde, mich zu einem Interessen“verrat“ gegenüber meinem Mandanten zu verleiten. Nicht, dass ich in dieser Sache groß hätte etwas erzählen können. Aber wenn ich, theoretisch, drauf losgeplappert und, ebenso theoretisch, offenbart hätte, dass mein Mandant womöglich von mir von der Ladung weiß, hätte ich Informationen geliefert, die meinen Mandanten möglicherweise in eine Zelle bringen.
Kein angenehmer Gedanke.
Es ist übrigens nicht so, dass ich mich grundsätzlich so formal verhalte. Aber in diesem Fall, sagt meine Sekretärin, wurden wir bei der telefonischen Mitteilung nicht mal gebeten, den Mandanten zu unterrichten. Wenn das Gericht schon will, dass Verteidiger seine Arbeit mit erledigen, sollte es wenigstens klare Aufträge erteilen.
Dann hätte es mit einer Antwort rechnen können. Auch wenn diese möglicherweise eine Absage gewesen wäre.