Der Fall liegt ein bisschen zurück, berührt aber eins der wichtigen drei Probleme. In einer Silvesternacht beschließt eine Schar von Studenten zwischen 18 und 20 Jahren eine freiwillige Schlägerei. Eine der jungen Frauen setzt eine Gaspistole an den Mund eines der Kontrahenten und drückt ab. Was nun vor Gericht folgt, ist eine Wanderung auf schmalem Grat. Denn nach unserem Jugendgerichtsgesetz ist diese Täterin eine „Heranwachsende“, ein Zwitter.
In der ersten Instanz wird sie als Erwachsene wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt. In der zweiten Instanz aber wird sie zur privilegierten Jugendlichen gemacht und nur mit einer Geldbuße belegt. Das Gericht meint, eine Erwachsene hätte solch eine Tat erst gar nicht begangen. Diese Begründung hält Jugend-Staatsanwältin Astrid Röttgen für absurd: „Das Jugendstrafrecht muss nur richtig statt falsch angewendet werden“.
Wann also ist ein junger Mensch überhaupt reif – und für welche Strafe? „Mit 14 sollte die Erziehung abgeschlossen sein“, sagt Röttgen. „Ich treffe auf 19-jährige Angeklagte, die sind wie Kinder“, bestätigt der Düsseldorfer Jugendrichter Burkhard Spicks. Deshalb hält der Praktiker auch nichts von „Erziehungscamps“: „Die Jugendlichen kommen da schlimmer raus als sie rein kommen“.
Spicks plädiert für die Unterbringung in geschlossenen Heimen, die vor 25 Jahren in Nordrhein-Westfalen abgeschafft wurden. Dort müsse den jungen Menschen beigebracht werden, wie sie ihr Leben bewältigen können. Dieser Ansicht ist auch die Jugendrichterin Andrea Sauter-Glücklich in Wuppertal: „Wir brauchen geschlossene Heime für Jugendliche, die sich Erziehungsmaßnahmen entziehen“.
Sie hat einen kriminellen Jugendlichen aus Duisburg vor Augen. Der kam nach Wuppertal in eine Pflegefamilie, flog dort raus, weil er der Pflegemutter das Konto abräumte. In einer eigenen Wohnung gerät der 17-jährige vollends auf die kriminelle Schiene. Er macht Drogengeschäfte und begeht Diebstähle, während er von Hartz 4 lebt. Sauter-Glücklich: „Es mangelt an intensiver Betreuung. Wie immer man es nennt, ob geschlossenes Heim oder Erziehungscamp: Das ist ein Fall für Zuckerbrot und Peitsche“.
Die Rede ist also nicht vom einfachen Wegschließen in den Knast. „Ein Tag Haft kostet den Steuerzahler rund 100 Euro“, gibt Jugendrichter Spicks zu bedenken, „die sind in der Sozialarbeit besser angelegt“. Die strengere Anwendung des Jugendrechts ist für die Praktiker demnach eine Teil-Lösung, die zweite besteht darin, gefährdeten Jugendlichen einen Halt zu geben – es gibt freilich noch, abgesehen von mehr Personal und damit mehr Geld, das dritte Problem namens Zeit.
Gestrauchelte junge Menschen brauchen eine schnelle Reaktion, meint Jugendrichter Burkhard Spicks: „Wir können, was sinnvoll ist, Jugendliche nicht schnell genug vor den Richter bringen“. Er kritisiert, das dauere bei einem, der einen Raub begangen hat, von wenigstens 6 Monaten bis zu einem Jahr. Noch schlimmer schildert seine Wuppertaler Kollegin Sauter-Glücklich die Situation nach einer Verurteilung: „Die Vollstreckung ist ein stumpfes Schwert geworden. Nach dem Urteil dauert es 6 Monate, bis die Haft angetreten wird.“
Dieser Rüge stimmt Jens Gnisa zu. Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes sieht aber die Jugend-Justiz in NRW auf dem richtigen Weg. Beim Projekt „Gelbe Karte“ in Remscheid, schildert Gnisa, treffe der Jugendliche auf einen Staatsanwalt, der ihm „sofort eine Kopfwäsche verpasst“, etwa mit 20 Sozialstunden. Dafür brauche der Staatsanwalt aber länger, als – wie bislang – ein Formular zu unterschreiben, mit dem das Verfahren gegen Auflagen eingestellt wird: „Dieses Projekt muss ausgeweitet werden“. Motto: Der Staat guckt nicht zu, dass Jugendliche kriminell werden.
Außerdem sind die (zivilen) Familiengerichte sensibilisiert. Sie greifen ein, wenn die Erziehungskompetenz der Eltern nicht ausreicht. Diese positiven Ansätze, mahnte Gnisa, dürfen nicht untergehen. Am Ruf des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch nach „Erziehungscamps“ aber stört Gnisa „der falsche Zungenschlag“: „Solche Politiker rufen am Ende einer Entwicklung nach härteren Strafen, tatsächlich muss bei jungen Kriminellen viel früher angesetzt werden. Man soll nicht die Feuerwehr rufen, wenn das Haus brennt, sondern vorher Brandschutzmaßnahmen treffen. Wir in NRW sind jetzt dabei“. (pbd)
Info: Das Jugendgerichtsgesetz (JGG), vor 84 Jahren entworfen, stellt den Erziehungsgedanken vor die Strafe. Es gilt für 14- bis 18-Jährige (Jugendliche) und 18- bis 21-Jährige (Herwanwachsende). Je nach Art der Tat und Reifegrad der Angeklagten können Richter denen Auflagen erteilen, sie beispielsweise Müll sammeln oder in der Altenhilfe arbeiten lassen. Die Gerichtsverhandlungen sind meistens nicht-öffentlich. Die Höchststrafe für Jugendliche ist – selbst bei einem Mord – auf 10 Jahre begrenzt. Das JGG regelt die spezielle Unterbringung bei einem Jugendarrest oder einer Haftstrafe. Auch junge Soldaten der Bundeswehr werden bei Straftaten begünstigt nach dem JGG behandelt. (pbd)