Die Unfähigkeit, die Realität zu akzeptieren

Um das Schicksal ehemaliger RAF-Mitglieder wird schrill debattiert. Dabei geht es längst nicht nur um die Vergangenheit, wie Felix Ensslin in der Zeit nachvollziehbar begründet. Am besten gefällt mir, wie er das große Dilemma der heutigen Konservativen in der Debatte auf den Punkt bringt:

Denn es ist ein Grundgedanke des Konservatismus, dass die Unfähigkeit, die Realität zu akzeptieren, der Anfang allen Übels ist und in letzter Konsequenz also auch der Nährboden für Terrorismus.

Die Schrillheit dieser Argumentation dient auch dazu, den darin enthaltenen Widerspruch zu überdecken. Denn in unserer Welt kann es keine echten Konservativen geben, und jeder wird scheitern, der die bestehenden Realitäten akzeptiert. Sie ändern sich einfach zu schnell. Der heutige Kapitalismus beruht nicht nur auf der Flexibilität der Biografien, die allerorts eingefordert und deren Folgen gleichzeitig beklagt werden, sondern darauf, grenzenlose Wünsche und Bedürfnisse zu wecken und ihre Befriedigung, und sei es in der Ersatzform des Konsums, zu verheißen.

Dieser Kapitalismus selbst produziert unentwegt einen gespenstischen psychischen Ausnahmezustand, einen unheimlichen Ort, in dem anything goes, niemandem nichts verwehrt bleibt und niemand etwas verpasst. Das »utopische« Denken – wenn auch in pervertierter Form – erweist sich als Grundbestandteil unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsform. Das Gespenst einer anderen Welt gehört ihm an.

Die Aufgeregtheit hat, das füge ich mal an, ihren Grund auch darin, dass wir eines ahnen: Anything goes ist für viele Menschen Vergangenheit. Der Ausnahmeszustand darf mittlerweile auch gern von den billigen Plätzen bewundert, aber nicht mehr gelebt werden. Die Unfähigkeit, die Realität noch als angenehm zu empfinden, ist fühlbar geworden.

Sehen wir es also positiv: Das ebenso unbedachte wie dröhnende Eingeständnis, dass die Gesinnung der RAF-Täter doch eine Rolle spielt, ist nur die Generalprobe für relevante Abwehrschlachten. Die sind, denke ich, an anderen, erdig eingefärbteren Fronten zu schlagen. Wenn’s schlecht läuft, haben sich jene, die heute am lautesten sind, bis dahin heiser geschrien.