Von EBERHARD PH. LILIENSIEK
Seht her: Wir haben die unglaublichen Missstände ja nur übernommen! Mit dieser Botschaft ließ Justizministerin Müller-Piepenkötter (CDU) vor Beginn des Rechtausschusses im Landtag eine Erklärung ihres Vor-Vorgängers verteilen. Darin gestand Sozialdemokrat Jochen Dieckmann bereits am 3. Mai 1999: „Angespannte Lage im Strafvollzug verlangt Bediensteten äußerste Anstrengungen ab“.
Die aber kenne die christdemokratische Justizministerin, so drehte die SPD gestern den Spieß um, seit eineinhalb Jahren. Und in denen habe sie nicht nur nichts gegen die prekäre Lage getan. Die habe sie, sagte der SPD-Landtagsabgeordnete Ralf Jäger, noch im Sommer wahrheitswidrig beschönigt. Sie hatte erklärt, sie habe die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts bereits erfüllt – also gesetzliche Vorkehrungen dafür getroffen, dass Gefangene vor wechselseitigen Übergriffen geschützt sind. Das rechnete ihr heute die SPD als Lüge an und erwägt einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.
Müller-Piepenkötter indes stürzte und stützte sich, eineinhalb Wochen nach der grausamen Tötung eines Häftlings in der Jugendhaftanstalt Siegburg durch drei Mitgefangene, um Ruhe bemüht auf ein Paket von Zahlen. Nach den „Geschehnissen von Siegburg“ müsse es „eine Verstärkung der Kontrolle der Hafträume an den Wochenenden“ geben. Für die dringend erforderliche Entlastung des gesamten Vollzugspersonals werden sofort 204 Stellen zur Verfügung gestellt, 80 neue eingerichtet und 124 von der Vorgänger-Regierung zu Streichung vorgesehene Stellen nun doch erhalten. Noch einmal 250 neue Stellen kommen später hinzu.
Damit widerspricht die Justizministerin ihrer ersten Behauptung, der mutmaßliche Mord in Siegburg habe nichts mit der Situation des Personals zu tun. „Das ist eine politische Schutzbehauptung“, hatte denn auch Klaus Jäkel, der Landeschef der Justizvollzugsbediensteten, schnell gekontert. Er bekommt nachträglich Recht, empfindet aber nach vielen Gewalt-Pannen in den Gefängnissen „keine Genugtuung“. Sozialdemokrat Jäger ebenso wenig, er denkt gar an die Klärung noch immer offener Fragen durch einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss: „Den werden wir in den nächsten Tagen erörtern. Und dann entscheiden.“
Die Justizministerin legte erstmals eine „Chronologie“ der Ereignisse aus ihrer Sicht vor – mit erstaunlichen Informationslücken. Am Sonntag, den 12. November, wurde morgens gegen sechs Uhr der Leichnam des Opfers in der Haftanstalt Siegburg gefunden. „Selbsttötung“ war die erste Diagnose des Anstaltarztes. Davon aber und von ersten Anzeichen eines Gewaltdeliktes wird die Ministerin laut Protokoll erst am Dienstag, den 14. November um 9.50 Uhr „umgehend“ informiert.
Am Nachmittag gibt es die erste Presseerklärung der „bestürzten“ Ministerin ohne weitere Einzelheiten. Am Donnerstag, den 16. November, unterbricht sie die Sitzung des Rechtsausschusses und fährt nach Siegburg. Das war vorher nicht möglich, heißt es, weil ihr sonst eine „ministerielle Einmischung in die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen“ hätte vorgeworfen werden können.
Am Freitag, den 17. November lehnt Müller-Piepenkötter zwar in einer Presseerklärung Forderungen nach ihrem Rücktritt ab; aber erst am Montag, den 20. November – eine Woche nach der Tat – tritt sie um 17 Uhr erstmals vor die Landespressekonferenz, der sie „Maßnahmen personeller und baulicher Art“ vorstellt. In der jüngsten Sitzung verlas sie ein 13-seitiges „Statement“ vor dem Rechtsausschuss. Und „versteckte sich hinter ihrem Sprechzettel und ihren Ministerialbeamten“, wie etwa die Grünen kritisierten. (pbd)