SÜSSE TRÄUME

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat sich etwas Besonderes ausgedacht: Sitzungsprotokolle von Strafgerichten sollen auch nachträglich noch geändert werden, selbst wenn damit der begründeten Revision des Angeklagten die Grundlage entzogen wird.

Ein Angeklagter hatte gerügt, dass der Anklagesatz in der Hauptverhandlung nicht verlesen wurde. Ein entsprechender Vermerk fand sich nämlich nicht im Sitzungsprotokoll. Sowohl der Richter als auch der Vertreter der Anklage erinnerten sich aber daran, dass der Anklagesatz verlesen wurde. Deshalb berichtigte der Richter das Protokoll.

Nach derzeit gültiger Rechtsprechung ändert diese Protokollberichtigung aber nichts daran, dass die Revision des Angeklagten Erfolg hätte. Denn es gilt bislang der Grundsatz, dass Protokollberichtigungen spätestens dann nicht mehr zulässig sind, wenn sie einen vom Angeklagten aufgedeckten Verfahrensfehler nachträglich „heilen“.

Diese Rechtsprechung möchte der 1. Strafsenat jetzt kippen.

Zur Begründung weisen die Richter unter anderem darauf hin, dass die Justiz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für Verfahrensverzögerungen haftet. So sind zum Beispiel Haftbefehle aufzuheben, wenn das Verfahren übermäßig lange dauert.

Somit, schlussfolgert der 1. Senat, müsse es dem Angeklagten künftig unmöglich gemacht werden, unter Bezug auf das Sitzungsprotokoll die Aufhebung eines Urteils durchzusetzen, wenn der Inhalt des Protokolls nicht mit der „Warheit“ übereinstimme. Notfalls, so verstehe ich das Gericht, muss die Wahrheit halt noch nachträglich ins Protokoll geschrieben werden.

Zunächst einmal ist es schon traurig, wenn einem Angeklagten sozusagen trotzig vorgehalten wird, er nütze formale Rechtspositionen aus. Das klingt ja so, als wäre das formale Recht nur ein lästiges Vehikel. Dabei ist es das Fundament, welches eine rechtsstaatliche Strafjustiz trägt.

Und überhaupt: Wie oft nutzen Gerichte formale Rechtspositionen aus? So verschanzt sich der Bundesgerichtshof seit jeher hinter absurden Anforderungen, die im Rahmen einer Revision an die Verfahrensrüge gestellt werden. Die Begründung dieser Rügen ist so kompliziert, dass es zu Recht hierfür Spezialisten gibt – wobei auch diese in den weitaus meisten Fällen scheitern.

Seltsamerweise ist beim Bundesgerichtshof niemand bestrebt, auch in solchen Fällen der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen. Selbst wenn krasse Verfahrensfehler eindeutig erkennbar sind, werden Rügen salopp unter Hinweis auf formalen Kinkerlitzchen abgewiesen. Kein Wunder, dass die mir bekannten Revisionsanwälte zum Fatalismus neigen.

Zum anderen halte ich das vom 1. Strafsenat proklamierte Urvertrauen in die Integrität der Richter und Urkundsbeamten für verfehlt. Die weitaus meisten Fälle sind nicht so krass wie der oben geschilderte. Häufig geht es um weniger auffällige Vorgänge, die längst nicht so gut in Erinnerung bleiben. Aber dann soll der Richter plötzlich Monate später, womöglich nach etlichen anderen Verhandlungen und Lektüre der Revisionsbegründung, mit einem Federstreich der „Wahrheit“ zum Siege verhelfen dürfen?

Natürlich wird er sich auf keinen Fall in Versuchung führen lassen, mit diesem einen Federstrich die Aufhebung seines Urteils zu verhindern – auch wenn er sich in seiner Erinnerung vielleicht doch nicht ganz so sicher ist? Ein deutscher Richter? Niemals! Ich wünsche noch süße Träume.

Noch besteht Hoffnung. Zunächst darauf, dass die anderen Strafsenate dem Vorschlag eine Absage erteilen. Dann bleibt es bei der bisherigen Rechtsprechung. Oder das Bundesverfassungsgericht muss es mal wieder richten. Wäre ja nicht das erste Mal in letzter Zeit.

Anfragebeschluss vom 12. Januar 2006