„Eigentlich ist es ja ein ganz einfacher Fall“, stöhnt die Richterin. „Eigentlich.“ Alles dreht sich nur um die Frage, was ein Mieter an seinen Vermieter gezahlt hat. Und wann. Trotzdem ist die Akte mittlerweile über 100 Seiten angeschwollen. Es findet schon die zweite Verhandlung statt. Auch heute wird nur über Rätselhaftes diskutiert, und die Richterin diktiert seitenweise Hinweise an beide Seiten. Spätestens der letzte Schriftsatz des Klägers hat alle Klarheiten beseitigt. Er umfasste 21 Seiten, fast nur Excel-Tabellen.
Wie konnte es dazu kommen?
Es gab mal Mietrückstände. Unregelmäßige Zahlungen. Einen Räumungsprozess. Zwei Kostenfestsetzungsbeschlüsse. Erhöhungen der Betriebskostenvorauszahlungen. Und Rücklastschriften.
Der Kläger wollte es ganz schlau machen. Und auf keinen Fall einen Cent verschenken. Er verrechnete die eingehenden Zahlungen zunächst auf die Gerichts- und Anwaltskosten. Dann auf von ihm berechnete Zinsen, schließlich auf vermeintlich offene Betriebskosten. Und erst ganz am Schluss auf die offenen Mieten.
Das Ganze wurde in ein Forderungsprogramm eingespeist. Das Resultat war eine Aufstellung mit vielen Zahlen. Beeindruckend. Was die Optik angeht. Allerdings braucht es in solchen Fällen (bei mir) nur die Bereitschaft, vorübergehend eine Mathematik-Aversion zu überwinden. Einen Taschenrechner. Sowie eine Viertelstunde, um die Bruchstellen zu erkennen: doppelt verbuchte Forderungen, vergessene Zahlungen, falsche Zinssätze.
Außerdem: Darf man überhaupt so verrechnen, wie es der Vermieter für richtig hält? Immerhin hat der Mieter doch bei der Zahlung die korrekte Buchungsnummer angegeben. Fürs Mietkonto. Liegt darin nicht schon eine Verrechnungsbestimmung, zu der jeder Schuldner ja berechtigt ist? Oder kann der Vermieter trotzdem sagen, ich gehe mal davon aus, dass die heutige Zahlung (in Höhe einer Miete) im luftleeren Raum erfolgt und mit Zinsen und / oder Kosten verrechnet werden darf?
Tatsächliche Fragen. Rechtliche Probleme. Schon ist eine ganz einfache Sache so unübersichtlich, dass zwei Anwälte und eine Richterin relativ ratlos davor sitzen. Daraus rettet eigentlich nur noch ein vernünftiger Vergleich. „Wir sind nach wie vor bereit, dem Vorschlag des Gerichts zuzustimmen“, sage ich. Der Anwalt der Gegenseite hebt die Hände zum Himmel. „Ich würde ja soooooo gerne. Aber meine Partei sagt kategorisch Nein. Er will das ganze Geld.“
Wir trennen uns also wie beim letzten Mal. Beide Seite haben Gelegenheit, zu den Hinweisen der Richterin Stellung zu nehmen. „Notfalls muss ich dann halt tagelang rechnen und ein weises Urteil fällen“, stöhnt sie am Ende. Ihr Gesicht verrät deutlich, dass die Zahlenkolonnenphobie unter Juristen weiter verbreitet ist, als man vielleicht manchmal denkt.