STRAFGERICHTE UNTER DRUCK

Von EBERHARD PH. LILIENSIEK

Das Bundesverfassungsgericht verweist die Strafjustiz in immer engere Grenzen. Das erfahren gerade Staatsanwaltschaften und Gerichte in Nordrhein-Westfalen, die ein folgenschwerer Beschluss erreicht. Danach unterliegen selbst Verfahren, in denen ein Untersuchungshäftling gegen Auflagen bereits auf freien Fuß gesetzt worden ist, dem „Beschleunigungsgebot“ für Prozesse: „Allein die Existenz eines Haftbefehls kann für den Beschuldigten eine erhebliche Belastung darstellen“. Der Haftbefehl ist demnach schon dann völlig aufzuheben, wenn „Beginn, Dauer und Beendigung eines Verfahrens in keiner Weise konkret absehbar sind“.

Mit ihrer Entscheidung (AZ 2 BvR 1737/05) hat die 3. Kammer des Zweiten BVG-Senats der Ansicht des Oberlandesgerichts Köln deutlich widersprochen. Einem Beschuldigten wird von der Staatsanwalt Aachen gewerbsmäßige Hehlerei und unerlaubtes Glücksspiel vorgeworfen. Das Amtsgericht ordnete im Januar 2004 Untersuchungshaft an, deren Vollstreckung nach über einem Jahr ausgesetzt wurde. Der Beschuldigte zahlte eine Kaution, hinterlegte seine Ausweise und meldete sich regelmäßig bei den Behörden. Er drang aber auch darauf, den Haftbefehl völlig aufzuheben. Das Oberlandesgericht Köln verweigerte seine Zustimmung: Das Verfahren verzögere sich lediglich durch die Schwangerschaft einer Richterin. Dadurch werde das Beschleunigungsgebot für den Prozess nicht verletzt.

Außerdem sei es ja wohl die Strategie der Verteidigung, ihre Rechte „extensiv auszuschöpfen“. Beide Argumente wischte das BVG vom Tisch. Für die schwangere Richterin etwa hätte ein Ergänzungsrichter einspringen können. Und: Das Gericht muss darlegen, warum es mit den Verteidigern nicht klar kommt. Wörtlich heißt es in der Entscheidung unter Berufung auf im Grundgesetz garantierte Freiheitsrechte: „Der Staat kann sich dem Beschuldigten gegenüber nicht darauf berufen, dass er seine Gerichte nicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abzuschließen“.

Auch ein nicht vollstreckter Haftbefehl ist mit einer „schwerwiegenden Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit verbunden“. Jens Gnisa, der NRW-Landesvorsitzende des deutschen Richterbundes (DRB) sorgt sich jetzt: „Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts macht deutlich, wie angespannt die personelle Situation bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften ist. Ein weiterer Personalabbau ist nicht zu verkraften, ohne die innere Sicherheit zu gefährden.“

Zudem fordert der DRB vom Gesetzgeber eine Reformierung des Strafverfahrens. Denn Gnisa sieht „Missbrauchsmöglichkeiten“ beim Stellen von Beweisanträgen durch Verteidiger. „Gegen Verschleppungsstaktiken müssen die Gerichte mehr freie Hand bekommen“. Lakonisch reagiert Ulrich Hermanski vom Justizministerium auf die Entscheidung des BVG: „Staatsanwaltschaften und Gerichte kennen und beachten die Karlsruher Rechtsprechung“. (pbd)