Ich will jetzt nicht sagen, die Vorsitzende Richterin am Amtsgericht hätte sich mit ihrem Urteil keine Mühe gemacht. Immerhin elf Seiten brachte sie zu Papier, um die Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wegen eines Drogendelikts zu begründen.
Schon als mir der Mandant über seinen Prozess berichtete und mich mit Rechtsmitteln gegen das Urteil beauftragte, habe ich gestutzt. Angesichts der doch stattlichen Strafe kommt einem Verteidiger quasi automatisch die Frage in den Sinn, warum das Gericht denn hier keinen „minder schweren Fall“ im Sinne des § 29a Abs. 2 BtMG bejaht hat.
Gut, muss ein Gericht im Ergebnis ja nicht. Aber der Mandant beharrte darauf, der minder schwere Fall sei noch nicht mal ein Thema in der Hauptverhandlung gewesen. Das wollte ich so recht nicht glauben; immerhin hatte der Mandant einen Anwalt an seiner Seite. Doch bei dem Kollegen hat der Automatismus, wonach man bei einem Drogendelikt fast immer etwas mit dem minder schweren Fall reißen kann, augenscheinlich nicht funktioniert.
Und die Richterin hat diese Möglichkeit wohl auch nicht gesehen. Wobei sich dann zwei getroffen haben und der Staatsanwalt vornehm geschwiegen haben dürfte. Mit dem schriftlichen Urteil sind jetzt jedenfalls alle Unklarheiten beseitigt: Die Entscheidung verliert kein Wort über die Frage, ob ein minder schwerer Fall vorgelegen haben könnte. Ich habe extra noch geguckt, ob vielleicht eine Seite fehlt. Nein, das Urteil ist so komplett.
Zum Hintergrund sollte man wissen, dass der erwähnte § 29a BtMG ein Horrortatbestand ist. Er sieht nämlich eine Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis für Drogendelikte vor, wobei die Voraussetzungen gar nicht mal so groß sind. Das ist für viele kleinere Sachen einfach zu hoch gegriffen. Auch deshalb gibt es ja zumindest den minder schweren Fall im Gesetz. Um beim Strafmaß Ausreißer nach oben zu vermeiden, muss der minder schwere Fall deshalb schon immer im Urteil zumindest dann diskutiert werden, wenn er nicht offensichtlich ausgeschlossen ist. Ich kann hier nicht ins Detail gehen, aber wenn ein Fall in meinem Büro in den letzten Monaten nach dem Notanker des minder schweren Falles geschrien hat, dann dieser.
Bleibt für mich und den Mandanten nur die Frage, ob es eine Berufung wird. Oder gleich eine Revision. Auch wenn wegen des offenkundigen Fehlers im Urteil eine Sprungrevision reizt, ist die Berufung nach meiner Meinung doch fast immer die bessere Wahl. Aber das kann ja der Mandant entscheiden, wenn er die Pros und Contras kennt.