Ja, heute hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Urteil zu der Frage verkündet, ob Webseitenbetreiber für beleidigenden Kommentare haften, die Nutzer auf die Seite eingestellt haben. Allerdings ist die Entscheidung weder das Ende der Meinungsfreiheit noch des Internets. Auch wenn so manche Berichte dies glauben machen.
Im Kern ging es um die Frage, ob ein Newsportal Schadensersatz an jemanden leisten muss, der sich zu Recht durch Beiträge von Kommentatoren auf der Webseite beleidigt fühlt. Wichtig ist zunächst zu wissen, dass nicht der Beleidigte vor dem EGMR geklagt hat, sondern das estländische Nachrichtenportal. Das Portal wehrte sich nämlich dagegen, dass es von einem estländischen Gericht dazu verurteilt worden war, an das „Opfer“ der beleidigenden Kommentare 320 Euro zu zahlen. Dies empfand das Portal als Einschränkung seiner Meinungsfreiheit.
Es ging also gerade nicht um die Frage, ob jetzt europaweit alle Seitenbetreiber verpflichtet sind, für jede Beleidigung auf ihren Portalen Schadensersatz zu zahlen. Sondern es ging lediglich um die Frage, ob das Urteil des estländischen Gerichts, das das Portal in diesem Einzelfall auf Grund der estländischen Gesetze verurteilte, die Rechte des Portals verletzt hat.
Genau das ist nach Auffassung des EGMR aber nicht der Fall. Gerade in den wesentlichen Punkten bringt die Entscheidung eigentlich nichts, was sich unmittelbar auf die Rechtslage in Deutschland auswirken könnte. Zahlen musste das Portal nämlich, weil es sich sechs Wochen Zeit gelassen hat, bis es den beleidigenden Kommentar entfernte. Zwar hatte es keine Beschwerde gegeben, aber der EGMR hält die Bewertung des estländischen Gerichts für zutreffend, wonach es sich bei dem Kommentar um „hate speech“ und Aufrufe zu Gewalt handelte.
Wir reden also über einen Inhalt, der nach deutscher Rechtslage „offensichtlich rechtswidrig“ gewesen sein dürfte. Derartige Kommentare müssen durchaus auch bei uns mit einer gewissen Priorität entfernt werden.
Problematisch an der Entscheidung ist aber sicherlich, dass der EGMR nicht unbedingt eine Beschwerde des Betroffenen für erforderlich hält, ab welcher für den Webseitenbetreiber die Uhr für die Entfernung des Kommentars zu ticken beginnt. Allerdings bedeutet die Entscheidung nur, dass dieser Mechanismus vom estländischen Gericht ohne Verstoß gegen europäische Grundrechte für verzichtbar angesehen wurde.
Man darf aber nicht den Schluss ziehen, dass es nun zum Beispiel zwingend auch deutsche Gerichte von ihrer Rechtsprechung abweichen müssen, wonach der Forenbetreiber bei uns normalerweise nur nach einer Beanstandung des Betroffenen haftet, wenn er nicht in angemessener Zeit reagiert.
Aus dem Urteil des EGMR ergibt sich überdies, dass die Entscheidung ausdrücklich nur für große, professionelle Nachrichtenportale gilt, die über entsprechende Redaktionen verfügen. Eine Aussage über die Haftung kleiner Forenbetreiber oder Blogger ist damit nicht getroffen.
Im übrigen dürfte sich das finanzielle Risiko ohnehin in Grenzen halten. Den Schadensersatz von 320 Euro hält der EGMR für gerade noch angemessen, weil der Betreiber der Seite ein großer gewerblicher Anbieter ist. Mit dem Betrag sei die Firma noch nicht übermäßig belastet. Dies bedeutet aber im Umkehrschluss, dass die denkbare Haftung etwa eines Freizeitbloggers oder Forenbetreibers sehr weit unter diesem Betrag liegen müsste (Aktenzeichen ECHR 205 (2015)).