Ab und an habe ich Gelegenheit, meine Mandanten ins Staunen zu bringen. Wenn beim Auftraggeber zum Beispiel Rauchwaren beschlagnahmt wurden, ist die festgestellte Menge natürlich von höchstem Interesse. Mitunter ist der Mandant dann schwer irritiert, wenn ich mit ihm das Sicherungsstellungsprotokoll durchgehe.
“Bei Ihnen wurden laut Ermittlungsakte 23,4 Gramm gefunden. Hier steht’s…”
“23,4 Gramm? Das waren aber 35 Gramm. Mindestens.”
Natürlich liegt es in solchen Fällen nahe, dass sich der Mandant vertut. Oder seine digitale Feinwaage. Vielleicht hat ihn auch sein Lieferant betuppt. Andere Möglichkeiten kommen mir jedenfalls kaum in den Sinn. Wiegefehler wären vielleicht noch eine Möglichkeit, drängen sich aber nicht auf. Eine deutsche Polizeidienststelle hat vielleicht nicht unbedingt Internet, aber zum Wiegen sichergestellter Drogen reicht das Equipment in aller Regel aus.
Die meisten Mandanten freuen sich natürlich, dass einige Gramm fehlen. Aus welchen Gründen auch immer. Diejenigen, die nicht so schnell schalten, sich tatsächlich aufregen und vielleicht sogar die beteiligten Polizisten anzeigen wollen, beruhige ich schon.
Ich erkläre ihnen, dass es wenig sinnvoll ist, das festgestellte Gesamtgewicht anzuzweifeln, so lange es niedriger ist als erwartet. Zum einen steht es schwarz auf weiß im Protokoll. Außerdem ist es natürlich nicht sinnvoll, sich strafrechtlich ohne Not noch mal 10 oder 15 Gramm ans Bein zu binden. Am Ende kommt noch eine “nicht geringe Menge” raus, für die man sich ein Schüppchen mehr abholt. Außerdem macht es sich erfahrungsgemäß nicht gut, von möglichen strafbaren Handlungen durch Amtspersonen zu sprechen, wenn man sie nicht beweisen kann. Da wird ja gleich die nächste Akte angelegt.
In den, wie gesagt, ganz, ganz wenigen Fällen, in denen so was vorkommt, lautet das Ergebnis unserer Besprechung immer: Wir erwähnen den möglichen Schwund nicht, sondern sehen das Ergebnis als glückliche Fügung. Eine Win-Win-Situation also, bei der am Ende nur offenbleibt, wo der zweite Win entstanden ist.
Mit zu wenig Gras habe ich also gewisse Erfahrung. Neu war für mich nun ein Fall, in dem sich die beschlagnahmten weichen Drogen vermehrt haben. Laut Protokoll hatte die Polizei bei einer Verkehrskontrolle den Rucksack meines Mandanten durchsucht. Gefunden wurde folgendes:
48,8 Gramm in einer Plastikbox
19,8 Gram in einem Griptütchen
11,8 Gramm in einem Griptütchen.
Das macht 80,4 Gramm. So stand es im Protokoll, das die Polizeibeamten angefertigt haben. In der Asservatenliste tauchten die gleichen Zahlen auf.
Umso verwunderter war ich, dass die Anklageschrift meinem Mandanten nun den Besitz von 105,74 Gramm Marihuana zur Last legt. Das ist nämlich die Menge, die beim Landeskriminalamt gewogen und wieder an die Polizei zurückgeschickt wurde. So steht es jedenfalls im Protokoll, das der Sachverständige im Drogenlabor ausgefüllt hat.
Wo die wundersame Drogenvermehrung stattgefunden hat, ist aus meiner Sicht völlig unklar. Aus der Ermittlungsakte ergibt sich aber immerhin, dass die Betäubungsmittel noch über den Schreibtisch eines Dritten gegangen sind, der bei der Durchsuchung gar nicht dabei war. Weggeschickt hat die Drogen laut offiziellem Vermerk nämlich ein bis dahin unbeteiligter Drogenfahnder
Aus meiner Sicht spricht einiges dafür, dass was verwechselt wurde. Wer schon mal auf einem Polizeipräsidium war, weiß, dass die Beamten sich natürlich Mühe geben, die Beweismittel sauber zu katalogisieren und zu verwalten. Allerdings sind das keine Vorgänge, die nach einer DIN-Norm passieren – um es mal vorsichtig zu sagen. Ich könnte jedenfalls aus dem Stand eine beachtliche Menge Kommissariate aufzählen, in denen – teilweise auch aus räumlicher Not geboren – eher rustikal mit Beweismitteln umgegangen wird.
Den zuständige Staatsanwalt scheint die wundersame Drogenvermehrung allerdings weniger zu verwirren. Er behauptet in der Anklageschrift lapidar, die Polizeibeamten vor Ort müssten halt falsch gewogen oder sich verschrieben haben. Das ergebe sich ja daraus, dass die Beweismittel ansonsten sauber aufgelistet seien.
Letztlich, so der Staatsanwalt, stimme insbesondere die akkurate Beschreibung des Verpackungsmaterials. Das finde ich besonders interessant. Erinnern wir uns daran, was im Protokoll steht: “Griptütchen”. Eine echt seltene Sache, zumal in Asservatenkammern.
Ich würde über die bestechende Beweisführung gern lachen, aber die Sache hat einen zu ernsten Hintergrund. Die 105,74 Gramm sind juristisch eine nicht geringe Menge. Dafür kann mein Mandant in den Knast gehen. Die ursprüngliche Menge von 80,4 Gramm liegt dagegen unter dem Grenzwert. Da dürfte es eher auf eine Geldstrafe oder zumindest Bewährung hinauslaufen.
Das wird also voraussichtlich eine spannende Gerichtsverhandlung. Beim nächsten Mal habe ich übrigens für Mandanten eine Erklärung mehr, wo das eine oder andere Gramm abhanden gekommen sein könnte. Von einer Win-Win-Situation kann man dann allerdings nicht mehr sprechen.