Der Richter hatte sieben Zeugen bestellt, aber schon nach einer Viertelstunde durfte er sie wieder nach Hause schicken. Einfach, weil auch ich mir nicht jedes Spielchen gefallen lasse…
In dem Verfahren geht es um drei Delikte. In einem ersten Gerichtstermin hatte ich eine angeregte Diskussion mit dem Richter. Diese endete damit, dass die Anklagepunkte 2 und 3 vorläufig eingestellt wurden. Selbst der Staatsanwalt in der Sitzung hatte es so beantragt. Die Punkte 2 und 3 waren ab diesem Zeitpunkt nicht mehr Gegenstand des Verfahrens.
Das Verhalten des Staatsanwalts im Gericht gefiel seiner Kollegin, welche die Akte eigentlich bearbeitet, ganz und gar nicht. Sie beantragte deshalb schriftlich beim Richter, die Anklagepunkte 2 und 3 wieder aufzurollen. Ich erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme. Von der Gelegenheit machte ich keinen Gebrauch.
Seitdem war Ruhe an der Front. Einige Termine platzten. Einmal hatte ich Urlaub, beim nächsten Mal war der Richter krank. So ging seit der letzten Verhandlung ein Jahr ins Land.
Nun marschierte ich nach so langer Zeit mit meinem Mandanten frohgemut ins Gericht. Dort empfing uns der Vorsitzende allerdings mit einer lapidaren Nachricht:
Nur zur Klarstellung, es geht heute wieder um alle Anklagepunkte.
Wie bitte? Ich erlaubte mir den Hinweis, die Fälle 2 und 3 seien in der letzten Verhandlung eingestellt worden. Bis heute sei mir kein Gerichtsbeschluss bekannt, der das rückgängig macht. Der Richter blätterte daraufhin zwar hektisch in seiner Akte. Einen Beschluss konnte er damit aber auch nicht herbeizaubern.
Ich beantragte dann auch gleich, das Verfahren zu vertagen. Begründung: Ich habe naturgemäß nur den verbliebenen Anklagepunkt vorbereitet. (Warum sollte ich mir auch Gedanken zu Komplexen machen, die derzeit als erledigt gelten?) Bei den Delikten 2 und 3 handele es sich um ziemlich komplizierte Sachverhalte, bei denen sich auch schwierige technische Fragen stellen. (Es geht um Onlinekriminalität.) Demgemäß sei ausreichend Zeit erforderlich, um auch diese Aspekte aufzuarbeiten. Ansonsten sei eine ordentliche Verteidigung unmöglich.
Der Richter hielt mir vor, ich müsse stets auf alle Anklagevorwürfe vorbereitet sein. Immerhin würde ich doch auch das Schreiben der Staatsanwältin kennen. Das stritt ich ja auch gar nicht ab. Aber es fehlte ja an einem Gerichtsbeschluss, welcher der Anregung der Staatsanwältin stattgibt. Diesen Beschluss zu verfassen und an mich zu schicken, dafür wäre ja nun auch ausreichend Zeit gewesen. Nämlich ein gutes Jahr.
Hätte ich den Beschluss gehabt, wäre ich natürlich auch auf die anderen Teile vorbereitet gewesen. Da das “Sie konnten es doch ahnen”-Argument nicht fruchtete, versuchte es der Richter allgemeiner. Es gehöre doch zu den Pflichten eines Anwalts, die ganze Akte zu lesen. Ob ich das denn unterlassen habe?
Das empfand ich dann doch als billig. Mit dem Lesen allein ist es doch nicht getan. Vielmehr geht die Arbeit danach erst los. Eine Verteidigungsstrategie will erarbeitet werden. Dabei denke ich in alle Richtungen nach, zum Beispiel über Beweisanträge. Die Zeit soll ich prophylaktisch auch für Teilaspekte aufwenden, die derzeit gar nicht mehr aktuell sind? Und das alles vor dem Hintergrund, dass der Mandant meine Zeit bezahlt…
Ich glaube, irgendwann schwante auch dem Richter, dass er die Folgen eines eigenen Versäumnisses nicht auf den Angeklagten abwälzen kann. Er erklärte sich also bereit, die Sache neu anzugehen. Allerdings nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er meine Argumente nicht für stichhaltig hält. Aber halt auch nicht weiß, ob es das Revisionsgericht nicht vielleicht doch anders sieht.
Voraussichtlich im Herbst geht es nun weiter. Ich werde vorbereitet sein.