Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat heute sein Urteil zum deutschen Inzestparagrafen verkündet. Die Richter beanstanden es nicht, dass deutsche Gerichte einen Mann zu Haftstrafen verurteilten, weil er mit seiner leiblichen Schwester einvernehmlich Geschlechtsverkehr hatte und auch Kinder zeugte.
Die Begründung des EGMR bleibt merkwürdig an der Oberfläche. So ist einer der zentralen Sätze, das Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (und damit auch der Sexualität) sei durch die deutschen Strafurteile nicht verletzt, weil hierdurch berechtigte Anliegen verfolgt würden: der Sittenschutz und die Rechte Dritter.
Wieso das Strafrecht für die Moral zuständig ist, erläutern die Richter leider nicht. Was besonders auffällig ist angesichts des Umstandes, dass an anderer Stelle des Urteils ausführlich dargestellt wird, wie unterschiedlich Inzest in Europa gesehen wird. So gibt es etliche Länder unter den 47 Mitgliedern des Europarates, die Geschlechtsverkehr unter Verwandten nicht bestrafen. Trotzdem ist nichts darüber bekannt, dass in diesen Ländern die Sitten übermäßig lose sind oder gar Dritte zu Schaden kommen, sofern Geschwister sich körperlich lieben.
Trotzdem erkennt das Gericht einen europäischen Konsens in dem Punkt, dass Sexualität gerade zwischen Geschwistern nicht erwünscht ist. Das leitet der Gerichtshof daraus ab, dass die Geschwisterehe nirgends erlaubt ist. Allerdings scheinen die Richter dabei zu übersehen, dass Sex und Ehe in der heutigen Zeit nur noch bedingt etwas miteinander zu tun haben.
Bei anderen Bedenken verweisen die europäischen Richter darauf, das deutsche Bundesverfassungsgericht habe sein früheres Ja zum Inzestverbot im Jahr 2008 sorgfältig begründet. Und das, obwohl ausgerechnet der Senatsvorsitzende am Verfassungsgericht in einem Minderheitenvotum beachtliche Gegenargumente vorbrachte – und dafür wesentlich mehr Zustimmung bei den Fachleuten fand als die Entscheidung selbst.
Ein Beispiel ist das vom Bundesverfassungsgericht in den Mittelpunkt gestellte Argument, aus Verbindungen zwischen Geschwistern gingen vermehrt behinderte Kinder hervor. Das ist medizinisch wohl richtig. Allerdings ist das Risiko auch nicht dramatisch höher, als wenn Frauen über 40 schwanger werden. Oder wenn Behinderte miteinander Kinder zeugen. Wenn es um mehr als Moral ginge, müsste auch diesen Bevölkerungsgruppen Geschlechtsverkehr verboten werden – auf diesen Gedanken kommt aber zum Glück niemand.
Eine weitere Merkwürdigkeit, die auch das moralische Argument fraglich macht: Das deutsche Strafgesetzbuch verbietet nur den “Beischlaf”. Damit ist ausschließlich Vaginalverkehr gemeint. Anal- und Oralverkehr dürfen damit auch leibliche Geschwister haben, ohne dafür bestraft zu werden. Die sexuelle Selbstbestimmung schützt der Inzestparagraf übrigens gar nicht. Hierfür gelten die allgemeinen Vorschriften über sexuellen Missbrauch.
Der Kläger kann gegen das Urteil Rechtsmittel einlegen. Viel helfen wird es ihm persönlich allerdings kaum noch. Nach Presseberichten hat er seine Haftstrafe abgesessen, die Beziehung zu seiner Schwester ist in die Brüche gegangen.