Zwei plus zwei ist normalerweise vier. Im juristischen Bereich gibt es so eine Trennschärfe aber nicht. Richtig oder falsch – das ist im Recht immer eine Frage der Interpretation. Selbst die Verschuldensfrage bei einem eigentlich simplen Verkehrsunfall kann so oder so beantwortet werden. Das zeigt ein aktuelles Urteil, mit dem der Bundesgerichtshof den weisen Feststellungen eines Oberlandesgerichts in die Parade fährt.
Eine Frau war auf der Autobahn ins Schleudern geraten. Ursache ungeklärt. Ihr Auto blieb auf der Überholspur liegen. Ein anderer Autofahrer fuhr mit Tempo 130 in das Auto der Frau; diese wurde schwer verletzt. Die Frage war, in welchem Umfang der auffahrende Autofahrer und seine Versicherung haften. Das Oberlandesgericht Karlsruhe kürzte die Haftung des Fahrers auf 40 %. Die Richter hielten der Frau vor, sie sei zum Zeitpunkt des Unfalls nicht mehr angeschnallt gewesen.
Der Bundesgerichtshof kann dagegen einen Verstoß gegen die Anschnallpflicht nicht erkennen. Die Richter verweisen auf die gesetzliche Regelung. Danach muss ein Autofahrer “während der Fahrt” angeschnallt sein. Das Unfallopfer sei jedoch nicht mehr gefahren. Die Fahrt sei nämlich dadurch beendet worden, dass ihr Auto gegen die Leitplanke knallte und liegenblieb.
Außerdem habe die Frau die Gurte auch lösen müssen, um sich in Sicherheit zu bringen. Überdies treffe sie die Pflicht, die Unfallstelle abzusichern. Dass dies angeschnallt kaum möglich ist, steht für den Bundesgerichtshof außer Frage.
Die Richter änderten deshalb den Urteilsspruch ab und sprachen der Frau 60 % ihres Schadens zu. Mehr hatte sie auch nicht verlangt, da sie ihr eigenes Mitverschulden mit rund einem Drittel ansetzte.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 28. Februar 2012, Aktenzeichen VI ZR 10/11