Auch Strafgerichte dürfen die Wahrheit nicht um jeden Preis erforschen. Im Umgang mit widerspenstigen Zeugen müssen sie auch deren Rechte ausreichend wahren und insbesondere prüfen, ob Zwangsmittel verhältnismäßig sind. Mit dieser Begründung hob der Bundesgerichtshof nun einen Ordnungshaftbeschluss gegen eine Zeugin auf, die im Verfahren gegen die frühere RAF-Terroristin Verena Becker nicht aussagen wollte.
Obwohl die Zeugin schwer an Krebs erkrankt ist, hatte das Oberlandesgericht gegen sie Ordnungshaft verhängt. Das Oberlandesgericht Stuttgart wollte aufgrund der Erkrankung die Ordnungshaft zwar zunächst nicht vollstrecken; die Anordnung selbst wollten die Richter aber nicht aufheben. Das tat nun der Bundesgerichtshof auf die Beschwerde der Betroffenen.
Die Karlsruher Richter zeigen in ihrer Entscheidung Schranken auf, die auch für Strafrichter gelten:
Die besondere Bedeutung der Aufgabe des Strafverfahrens, die wichtigsten Individual- und Gemeinschaftsrechtsgüter zu schützen, darf auch in Fällen schwerer und schwerster Kriminalität nicht den Blick darauf verstellen, dass die Strafverfolgung stets mit Eingriffen in die Rechte der vom Verfahren Betroffenen einhergeht und Rechtsgüter der Gemeinschaft beeinträchtigen kann.
Auch deren Schutz ist dem Staat aufgegeben. Der Zweck des Strafverfahrens würde daher verfehlt, wenn es den Strafverfolgungsorganen zur Aufdeckung und Ahndung einer Rechtsgutsverletzung gestattet wäre, unbegrenzt in andere Individual- oder Gemeinschaftsrechtsgüter einzugreifen.
Das Wertesystem der Verfassung, das zu schützen Zweck des Strafverfahrens ist, setzt diesem daher gleichzeitig auch Schranken. Deshalb gilt – auch in Fällen terroristisch motivierter Tötungsdelikte - der Grundsatz, dass die Wahrheit nicht um jeden Preis – hier: um den Preis der hohen Gefährdung des Lebens einer schwer erkrankten Zeugin - erforscht werden darf.
Schon die Anordnung der Beugehaft bedeute für die Zeugin eine so enorme Belastung, dass mit einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu rechnen sei, möglicherweise sogar mit ihrem Tod. Im Hinblick auf die besonderen Umstände sei deshalb schon die Anordnung der Beugehaft unverhältnismäßig.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 10. Januar 2012, Aktenzeichen StB 20/11