Wie wird man zu einem „Zeugen“ im Fall des vermissten Mirco? Man muss nur in Grefrath und Umgebung mit dem Auto unterwegs sein. Samt und sonders alle an „tatrelevanten Orten“ vorbeikommenden Wagen seien am Freitag von Radarwagen geblitzt worden, berichtet die Polizei.
Die Aktion habe vier Stunden gedauert. Etliche Autofahrer hätten angehalten und die Polizisten angesprochen, weil sie sich keiner Geschwindigkeitsübertretung bewusst gewesen sein. „Alle zeigten sich nach einer kurzen Aufklärung sehr verständnisvoll und zeigten sich erstaunt über den enormen Ermittlungsaufwand der Polizei“, heißt es im Polizeibericht.
Erstaunt wäre ich auch gewesen. Mein Verständnis hätte sich allerdings in Grenzen gehalten.
Die Polizei hofft offensichtlich, dass der Entführer des Jungen öfter die fraglichen Orte abfährt oder halt in der Gegend wohnt. „Mit viel Glück und Zufall ist vielleicht auch der Täter geblitzt worden“, wird ein Polizeibeamter zitiert. Was ja wohl nichts anderes heißt, als dass nun alle festgehaltenen Kfz-Kennzeichen und Insassenfotos durch die Datenbanken gejagt werden in der Hofnung, bei einem der Noch-„Zeugen“ könnten sich Ansatzpunkte für weitere Ermittlungen ergeben.
Es gibt eine Rechtsgrundlage für die Fotos der Polizei. § 100h Strafprozessordnung erlaubt Bildaufnahmen außerhalb der Wohnung. Aber grundsätzlich nur vom Beschuldigten. Andere Personen, also die beliebig vorbeikommenden Autofahrer, dürfen nur fotografiert werden, „wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes eines Beschuldigten auf andere Weise weniger vielversprechend oder wesentlich erschwert wäre“.
Die gesetzlichen Voraussetzungen können durchaus erfüllt sein. Wenn die Polizei nämlich schlichtweg keine anderen Ermittlungsansätze mehr hat. Dafür spricht, dass zeitgleich mit der Fotoaktion Listen in Grefrather Kneipen ausgelegt wurden. In diese Listen sollen sich freiwillig Gäste eintragen, die regelmäßig freitags dort sind oder am 3. September 2010, dem möglichen Tattag, dort waren. Das klingt, so traurig es ist, als würde die Polizei momentan nach dem letzten Strohhalm greifen.
Letztlich stellt sich bei der Blitzaktion die Frage nach der Verhältnimäßigkeit. Ist sie geeignet? Mit dem gleichen gedanklichen Ansatz könnte man auch alle Wohnungen in Grefrath durchsuchen, geht die Polizei doch erklärtermaßen davon aus, dass der Täter aus der Gegend kommt. Aber mit kriminalistischer Erfahrung lässt sich ja alles rechtfertigen. Und sei sie noch so plump wie die gern kolportierte Erkenntnis, Straftäter ziehe es immer wieder an ihre Tatorte zurück.
Juristen fragen aber auch nach der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn. Hierbei ist sicher zu berücksichtigen, dass die Maßnahme bei allen jetzt (und vielleicht künftig) fotografierten Autofahrern Ängste auslösen wird. Was passiert mit den Fotos und den abgeglichenen Daten? Welche Umstände reichen aus, um als „Zeuge“ vorgeladen zu werden? Und welche, um eine unangemeldete Hausdurchsuchung zu bekommen? Oder gleich effektvoll am Arbeitsplatz verhaftet zu werden?
Wer als rechtschaffener Bürger die Pressemeldung liest und zur fraglichen Zeit in Grefrath war, muss jedenfalls ein ganz dickes Fell haben, wenn ihn der Gedanke nicht erschaudern lässt, dass er jetzt als potenzieller Täter in Betracht kommt („Mit viel Glück und Zufall ist vielleicht auch der Täter geblitzt worden“). Und dass er jetzt zumindest per EDV gründlich abgeklopft wird.
Die Polizei macht Grefrath damit auch für die nächste Zeit zu einer No-go-Area. Wer möchte sich in diese Stadt begeben, wenn er schlicht und einfach aufgrund dieses Umstandes fotografiert, datenmäßig durchleuchtet und danach mit Namen und Adresse sowie einem passenden Scorewert auf der „Liste“ mit interessanten Namen zu einem möglichen Schwerverbrechens landet? Absichtliches oder versehentliches Upgrade zum Verdächtigen sowie dauerhafte Speicherung in der Fallakte selbstverständlich eingeschlossen.
Es wird interessant sein zu erfahren, zu welchen Maßnahmen die kreativen Ermittler in Grefrath noch gegriffen haben oder es tun. Stichworte: Mobilfunk, Internetnutzung.
Noch interessanter wird sein, wie sie es mit ihren Informationspflichten nach Abschluss der Ermittlungen halten. Die Überwachten und Erfassten müssen nämlich grundsätzlich benachrichtigt werden, damit sie von den Maßnahmen überhaupt erfahren und, sofern sie es möchten, dagegen klagen können.