Vor einiger Zeit schrieb Bundesfamilienministerin von der Leyen an Spreeblick, andere Websperren als die kinderpornografischer Angebote seien derzeit nicht geplant. Spreeblick kommentierte das mit einem einzigen Wort:
Derzeit.
Wie zutreffend diese Einschätzung war, zeigte sich schon kurz nach Verabschiedung des Zugangserschwerungsgesetzes. Hinterbänkler forderten reflexartig und ohne jede Schamfrist, auch andere Seiten, zum Beispiel solche mit politischer Propaganda, zu sperren. Auch das Stichwort Urheberrecht fiel. Doch es gab die stille Hoffnung, dass es zumindest den Verantwortlichen klar sein würde, wie sehr sie schon mit der bloßen Einführung einer Zensurinfrastruktur das Grundgesetz und das darauf basierende Empfinden vieler Menschen strapazieren. Und zwar gerade jener, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.
Doch offensichtlich setzt sich in Politikerkreisen die Auffassung durch, dass der stimmberechtigte Deutsche in der Masse nicht viel von seinem Grundgesetz hält. Und dass eine deutlich größere Gruppe als der Stammtisch es gut finden wird, wenn der Staat den Robocop im Internet gibt, dort mit eisernem Besen säubert – und die Meinungsfreiheit als Sondermüll entsorgt.
Denn nun spricht auch die, zumindest nach außen, treibende Kraft hinter den Internetsperren Klartext. Dem Hamburger Abendblatt stand Familienministerin Ursula von der Leyen Rede und Antwort:
abendblatt.de: Sie argumentieren, Grundregeln unserer Gesellschaft müssten online wie offline gelten. Warum sperren Sie dann nicht auch Internetseiten, die Nazipropaganda verbreiten oder Gewalt gegen Frauen verherrlichen?
Von der Leyen: Mir geht es jetzt um den Kampf gegen die ungehinderte Verbreitung von Bildern vergewaltigter Kinder. Der Straftatbestand Kinderpornografie ist klar abgrenzbar. Doch wir werden weiter Diskussionen führen, wie wir Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde im Internet im richtigen Maß erhalten. Sonst droht das großartige Internet ein rechtsfreier Chaosraum zu werden, in dem man hemmungslos mobben, beleidigen und betrügen kann. Wo die Würde eines anderen verletzt wird, endet die eigene Freiheit. Welche Schritte für den Schutz dieser Grenzen notwendig sind, ist Teil einer unverzichtbaren Debatte, um die die Gesellschaft nicht herumkommt.
Mobben, beleidigen, betrügen. All das kann man im Internet tun. Genau so, wie man es im wirklichen Leben tun kann, zum Beispiel Angesicht zu Angesicht, per Brief, Fax oder Telefon. Aber egal, wie man es macht – es ist strafbar und wird verfolgt. Auch im Internet.
Ich erlebe es als Strafverteidiger Tag für Tag, wie die Polizei akribisch jeder Anzeige wegen Verletzung der persönlichen Ehre nachgeht. Neulich hatte ich den Fall, in dem jemand das Nacktfoto einer Frau im Gästebuch deren ehemaliger Schule gepostet hat. Die Polizei ermittelte aufwendig und überführte einen Ex-Freund als Täter. Das Internet als rechtsfreier Raum? Vielleicht hat der Täter dies zunächst so gesehen wie Frau von der Leyen – nach der Hausdurchsuchung dürfte sich sein Bild gewandelt haben.
Ein anderer, nicht ausgedachter Fall: Der geschmähte Liebhaber malt mit einer Schablone eine obszönen Text auf die Straße, die am Arbeitsplatz der Verehrten vorüber führt. Die Polizei ermittelt, durchsucht, findet unter anderem nicht nur die passende Farbe, sondern auch die Schablone. Der Täter wird verurteilt.
Noch heute, Monate später, ist der derbe Spruch übrigens auf der Straße zu lesen. Ist die Fahrbahn jetzt auch ein rechtsfreier Raum? Hätte sie gesperrt werden müssen, damit der unbescholtene Bürger und die Betroffene an diesem schrecklichen Anblick keinen seelischen Schaden nehmen?
An den Beispielen sieht man, wie unredlich von der Leyens Stammtischargumente sind. Sie nennt kriminelles Handeln, welches bereits heute unter Strafe steht und verfolgt wird. Dann bringt sie die Menschenwürde ins Spiel und postuliert einen Handlungsauftrag des Staates, der weit über die Verhütung und Verfolgung von Straftaten hinausgeht. Eine zugkräftige, gleichwohl aber billige Argumentation, und zwar in mehrfacher Hinsicht:
Die Menschwürde zählt, vereinfacht gesagt, zu den Grundrechten. Sie ist ein Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Niemand darf von staatlichen Organen zu einem bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht und seines Selbst beraubt werden; sein Leben ist nicht gegen das Leben anderer abwägbar (ausführliche Beschreibung: Wikipedia).
Frau von der Leyen münzt das Abwehrrecht gegen den Staat in einen Handlungsauftrag des Staates um. Plötzlich ist die Menschenwürde ein Grund für staatliches Eingreifen – der Staat schützt die Menschenwürde seiner Bürger, indem er Dritten den Mund zuhält oder durch Stoppschilder dafür sorgt, dass sie im Internet nicht mehr gelesen, gesehen und gehört werden können.
Das entfernt sich weit vom eigentlichen Sinn und Zweck des Grundrechts auf Menschenwürde. Wie absurd das Ganze ist, zeigt sich an von der Leyens Aussage, die Bewahrung der Menschenwürde begrenze Demokratie und Meinungsfreiheit auf das „richtige Maß“. So werden aus rechtsstaatlichen Grundelementen, die sich bedingen und ergänzen, Gegensätze.
Die böse Absicht darf mittlerweile unterstellt werden.
Die Familienministerin interpretiert also die Menschenwürde um. Von einer Pflicht, welche die äußersten Grenzen staatlichen Handelns umreißt, zum „großen Reinigungsauftrag“ an den Staat. Das mag fürsorglich gemeint sein. Zu viel staatliche Fürsorge in Form der Beschneidung von Grundrechten hat jedoch bisher weder die Demokratie noch die Freiheit gefördert.
Man muss ja nicht die Weimarer Republik bemühen. Das sicherlich ehrlich gemeinte Bonmot des Protagonisten eines vom Selbstverständnis her ebenso fürsorglichen Staates genügt ebenso. Was hatte der Betreffende noch gleich gesagt? „Ich liebe euch doch alle.“
Abgesehen vom offenkundig verfehlten Anwendungsgebiet ist die Menschenwürde kein Allzweckmittel wie ein Schweizer Taschenmesser. Sie zeigt, wie dargelegt, die äußersten Grenzen staatlichen Handelns auf. Die Menschenwürde taugt aber nicht als Regulativ der Freiheit.
Ich fahre jemanden auf der Straße an und verletze ihn schwer. Das Opfer wird sein Leben behindert sein, also grausame Folgen erleiden. Ich habe dann zwar eine fahrlässige Körperverletzung begangen (und werde dafür bestraft), aber ich habe die Menschenwürde des Unfallopfers nicht angegriffen.
Eine Beleidigung ist auch nur ein Angriff auf die persönliche Ehre, aber kein Angriff auf die Menschenwürde. Selbst extreme politische Propaganda, so sehr sie auch schmerzen und empören mag, ist in den allermeisten Fällen eben nur politische Propaganda. Und falls nicht, haben wir dafür taugliche (Sonder-)Gesetze. Sie finden sich im Strafgesetzbuch, nicht im Grundgesetz; Gewaltverherrlichung und Volksverhetzung sind dort seit jeher unter Strafe gestellt.
Vorhin habe ich beschrieben, wie eifrig und akkurat unsere Polizei jede begründete Strafanzeige ausermittelt, sei es nun ein Gartenzaundelikt oder ein ebay-Betrug mit einem Schaden von 21,50 Euro. Deshalb will ich erwähnen, dass gerade bei Gewaltverherrlichung und Volksverhetzung nach meiner Erfahrung ebenfalls kein rechtsfreier Raum existiert.
Neulich musste ich einem Blogger helfen, weil er auf seiner Seite einen Ausschnitt aus einem Splatterfilm gepostet hat. Weder Polizei noch Staatsanwaltschaft wollten zur Kenntnis nehmen, dass es sich hier nicht um reine Gewaltverherrlichung im Sinne des Gesetzes handelte, sondern um die Abschlussarbeit eines kanadischen Filmstudenten. Dessen Streifen konnte man – nach dreimaligem Würgen – durchaus künstlerische Aspekte und insbesondere eine gesellschaftspolitische Aussage abgewinnen. Das Verfahren endete glimpflich, aber der anfänglich arglose Mandant fragt sich noch heute, in was für eine erkenntnisresistente Maschinierie er da hineingeraten ist. Und was passiert wäre, wenn nicht zumindest die Richterin Augenmaß bewiesen hätte.
So entschieden und rustikal, die Hausdurchsuchung war natürlich inbegriffen, im beschriebenen Fall vorgegangen wurde, so wird auch wegen Volksverhetzung im Internet ermittelt. Strafanzeige genügt, und die Maschinerie rollt.
Allerdings kommt es dann halt auch vor, dass eben nicht alles, was ein (zufälliger) Leser und ein Polizeibeamter für Volksverhetzung oder verbotene Propaganda jedweder Couleur halten, auch solche ist. Mit der Folge, dass sich geschmacklose, unbequeme und für einzelne sicher auch schmerzhafte Inhalte nicht bestrafen und abschalten lassen.
Ich habe das Gefühl, von der Leyens Wunsch nach Sauberkeit zielt auf diese Inhalte. Was mit dem Strafgesetzbuch nicht greifbar ist, aber trotzdem das Volksempfinden, repräsentiert durch Polizeikommissar Hinz und Staatsanwalt Kunz, stört, soll raus aus dem Internet. Oder jedenfalls nicht mehr sichtbar sein.
Wenn man aber nur noch eine Meinungsfreiheit zulassen will, die geschmacklose, unbequeme und für einzelne schmerzhafte Inhalte nicht umfasst, sollte man fairerweise nicht mehr von Meinungsfreiheit sprechen. Von Demokratie vielleicht auch nicht mehr.
Frau von der Leyen mag uns alle lieben. Dieses Gefühl beruht aber langsam nicht mehr auf Gegenseitigkeit.