Tag für Tag gehen Beschuldigte in Untersuchungshaft. Allerdings ist es schon ungewöhnlich, wenn ein hochbetagter Mensch betroffen ist. Oder gleich drei auf einmal. Das war diese Woche der Fall: Gerichte erließen Haftbefehle gegen drei Männer im Alter von 88, 92 und 94 Jahren. Sie stehen im Verdacht, als KZ-Aufseher in den Vernichtungslagern von Auschwitz für Morde verantwortlich oder zumindest an diesen beteiligt gewesen zu sein.
69 Jahre nach Kriegsende gehen die Beschuldigten also in Haft. Genauer gesagt: ins Justizkrankenhaus. Denn, wenig überraschend, keiner der Männer kann offenbar noch in einer normalen Gefängniszelle untergebracht werden. Die Beschuldigten sind gebrechlich, bei zweien sollen sogar die Vernehmungsfähigkeit zweifelhaft sein.
So ein Gesundheitszustand wirft natürlich Fragen auf – an die Justiz. Das vor allem, wenn man sich in Erinnerung ruft, wozu Untersuchungshaft dient. Sie soll – kurz gesagt – verhindern, dass Beschuldigte fliehen oder Beweise zur Seite schaffen. Flucht- und Verdunkelungsgefahr, so heißen diese wichtigsten Haftgründe.
Schwer vorstellbar, dass genau diese Haftgründe vorliegen. Der offiziellen Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Stuttgart ist jedenfalls nicht genau zu entnehmen, warum die Beschuldigten in Haft müssen. Nach meiner Erfahrung mit 90-jährigen Menschen – wir haben einen in der Familie – scheint es mir persönlich jedenfalls höchst zweifelhaft, ob die Betroffenen in der Lage wären, sich ernsthaft auf die Flucht zu begeben oder Beweismittel, die nicht ohnehin bei der Durchsuchung ihrer Wohnungen gefunden wurden, beiseite zu schaffen.
Ich habe keine große Sympathie für mögliche KZ-Schergen. Genau genommen sogar das Gegenteil. Aber ich rufe mir auch in Erinnerung, dass bei jedem Verdächtigen die Unschuldsvermutung gilt, auch bei schlimmsten und allerschlimmsten Taten. So lange sie nicht rechtskräftig verurteilt sind, sind die Beschuldigten vor dem Gesetz keine Mörder oder Mordgehilfen. Und bis ein Urteil über sie gesprochen ist, haben sie auch nicht für ihre möglichen Taten zu büßen.
Warum also dann die Untersuchungshaft? Formal macht es das Gesetz den Behörden erst mal leicht. Nach der Strafprozessordnung darf Untersuchungshaft halt auch ohne die eingangs erwähnte Flucht- oder Verdunkelungsgefahr beziehungsweise sonstige Haftgründe verhängt werden, wenn es um so schwere Taten wie Mord geht.
Allerdings bedeutet dies tatsächlich nicht, dass jeder Mordverdächtige ohne jeden Anlass in Untersuchungshaft genommen werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich in mehreren Entscheidungen zu dem Thema jedenfalls recht eindeutige Leitlinien vorgegeben: Dass bei Mord grundsätzlich Untersuchungshaft verhängt werden darf, setzt nur die Schwelle für eine Inhaftierung herab – beseitigt wird sie nicht.
Ein Mindestmaß an „Haftgründen“ muss demnach auch bei Mordverdächtigen vorliegen. Und sicher noch ein Tacken mehr, wenn es „nur“ um Beihilfe zum Mord geht. Den Berichten über die Festnahmen ist zu entnehmen, dass selbst die Staatsanwälte kaum davon ausgehen, einem der Verdächtigten einen konkreten Mord nachweisen zu können.
Es wird interessant sein zu erfahren, worin bei so alten Menschen der in jedem Fall notwendige Hauch der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr gesehen wird. Ich hoffe auf eine gute Begründung. Denn ansonsten könnte sich leicht der Eindruck ergeben, dass hier eine Strafe vorweggenommen wird. Eine Strafe, die bei einem rechtsstaatlichen Gang der Dinge schon aus biologischen Gründen voraussichtlich nicht mehr festgestellt, geschweige denn vollstreckt werden kann.
Leider gibt ein Umstand in dem Fall Anlass zur Skepsis. Alle Haftbefehle sind auf Betreiben der Staatsanwaltschaft Stuttgart ausgestellt worden. Beschuldigte aus anderen Bundesländern, für die andere Staatsanwälte verantwortlich sind, blieben von der Untersuchungshaft verschont.
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