Setzt das Bundesverfassungsgericht die Axt an und lichtet es den Paragrafendschungel? Der Kahlschlag, so er denn kommt, könnte sich gegen elf Jahre hektischer Gesetzgebung richten, die stets unter dem Mantel Terrorismusbekämpfung vorangeschritten ist, in Wirklichkeit aber die Grundrechte jedes Bürgers massiv eingeschränkt hat.
Heute jedenfalls hat das Bundesverfassungsgericht einen Beschluss verkündet, der den Regelungswahn, der mit den Otto-Katalogen seinen Anfang nahm, zumindest an einer Stelle stoppt, noch dazu mit einer interessanten Begründung. Die Richter beanstanden eine Vorschrift, die Telekommunikationsanbieter verpflichtet, an Ermittlungsbehörden Zugangscodes (PIN, PUK etc.) etwa für Handys herauszugeben, sobald diese die Daten verlangen.
Das Verfassungsgericht kritisiert, diese Zugangskennungen müssten sogar übermittelt werden, selbst wenn die Ermittler mit ihnen nichts anfangen können, weil sie mangels gesetzlicher Regelung die Telefone und andere Kommunikationsgeräte gar nicht auslesen dürfen. Die Behörden konnen also bisher Schlüssel für Räume verlangen, die sie gar nicht betreten dürfen. Ein offensichtlicher Wildwuchs im Rahmen der Überwachungsgesetze.
Das Bundesverfassungsgericht gewährt allerdings eine Übergangsfrist bis zum 30. Juni 2013. Bis dahin muss der Gesetzgeber die Vorschrift verfassungskonform gestalten.
Außerdem sagt das Bundesverfassungsgericht Überraschendes zur dynamischen IP-Adresse. Es sieht derzeit keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die bisherige Praxis, von TK-Anbietern quasi “einfach mal so” die Auskunft zu verlangen, welchem Kunden zu einem bestimmten Zeitpunkt eine ermittelte IP-Adresse zugewiesen war.
Das Bundesverfassungsgericht unterstellt dynamische IP-Adressen ausdrücklich dem Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses. Diese Sichtweise widerspricht der heute gern vertretenen Auffassung, IP-Adressen seien einfache “Bestandsdaten”, ähnlich wie Kundenname und –adresse und unterlägen demnach nicht dem besonderen Schutz des Fernmeldegeheimnisses.
Ist die dynamische IP-Adresse aber künftig Teil des Telekommunikationsvorgangs, kann dies weitreichende juristische Folgen haben. Im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung wird man dann möglicherweise zum Ergebnis kommen, dass die Abfrage von Kundendaten zu IP-Adressen bei Bagatellstraftaten nicht zulässig ist. Auch das Abhören von Telefonen ist ja heute nur gestattet, wenn wegen Straftaten von einigem Gewicht ermittelt wird.
Auch der Abmahnindustrie könnten unerwartete Turbulenzen drohen. Den Rechteinhabern hat der Gesetzgeber einen eigenen zivilrechtlichen Auskunftsanspruch eingeräumt. Werden mit Rücksicht auf die Verfassung möglicherweise sogar die Rechte der Strafverfolger eingeschränkt, führt diese zwangsläufig zu der Frage, ob der Auskunftsanspruch der Abmahner noch verhältnismäßig ist. Denn es kann ja wohl kaum richtig sein, dass wegen eines kleinen ebay-Betrugs der Staatsanwalt demnächst keine IP-Adressen mehr checken darf, ein Musiklabel wegen des neuesten Songs von Madonna aber schon.
Allerdings hat der Gesetzgeber auch hier noch bis 30. Juni 2013 Zeit, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen. Bis dahin gelten die bisherigen Regelungen fort. Das Bundesverfassungsgericht ruft die Ermittler lediglich dazu auf, besonders sorgfältig die Voraussetzungen ihres Handelns zu prüfen.