Das Bundesverfassungsgericht hat heute über die Sicherungsverwahrung entschieden. Die Karlsruher Richter folgen auf dem Papier den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und erklären sämtliche Regelungen über die Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig. Gleichzeitig ordnen sie aber nicht die sofortige Freilassung der Betroffenen an, sondern erklären die bisherigen Regelungen trotz ihrer Rechtswidrigkeit für weiter anwendbar; der Gesetzgeber muss binnen zwei Jahren die Sicherungsverwahrung auf eine neue Grundlage stellen.
Bis zum Inkrafttreten neuer Gesetze ordnet das Bundesverfassungsgericht eine Übergangsregelung an. An sich zu entlassende Straftäter dürfen trotzdem weiter verwahrt werden, wenn sie hochgradig gefährlich sind. Das muss spätestens bis Ende 2011 positiv festgestellt werden. In jedem Fall, so das Gericht weiter, muss außerdem die Verhältnismäßigkeit jeder Maßnahme “strikt” überprüft werden.
Ich bezweifle, dass die Lösung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Bestand hat. Der Gerichtshof hatte klipp und klar geurteilt, dass die nachträgliche, erst in der Haft angeordnete Sicherungsverwahrung unzulässig ist. Gleiches gilt für die später ausgesprochene Verlängerung über 10 Jahre, obwohl dies seinerzeit das gesetzliche Höchstmaß für die Sicherungsverwahrung war.
Bei solchen Verstößen gegen das geltende Recht (sogenannten Altfälle) kommt es nach Auffassung der Straßburger Richter gerade nicht darauf an, als wie gefährlich der Sicherungsverwahrte einzustufen ist. Sie sehen schlicht keine gesetzliche Grundlage, ihn weiter einzusperren. Dem setzt Karlsruhe nun wiederum eine doppelte Abwägung entgegen, und das ausgerechnet in Form der an sich in diesen Fällen unzulässigen Gefährlichkeitsprüfung.
Nicht ganz nachvollziehen kann ich auch, was neu an der zweiten Prüfungsstufe ist. Eigentlich sollte man annehmen, dass bei derart drastischen Eingriffen in die Freiheitsrechte schon bislang strikt geprüft wird, ob eine Maßnahme verhältnismäßig ist. Entweder haben die Behörden bislang ihre Arbeit nicht ordentlich gemacht oder diese Regelung läuft weitgehend leer. Mir erscheint sie wie ein reines Schaulaufen, um die Übergangsregelung etwas gehaltvoller wirken zu lassen.
Das Verfassungsgericht bleibt also seiner Linie treu, die Versäumnisse des Gesetzgebers auf dem Rücken der Sicherungsverwahrten auszutragen. Es dürfte nicht lange dauern, bis diverse Fälle wieder am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen. Dieser hat bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass er sich nicht mürbe machen lässt und deshalb konsequent immer wieder zu Gunsten der Betroffenen entschieden. Die nächste Zurechtweisung für die deutsche Justiz liegt damit in der Luft.
Dies gilt umso mehr, als das Verfassungsgericht wortreich begründet, warum die Europäische Menschenrechtskonvention unter dem Grundgesetz steht und deutsche Gerichte nicht direkt bindet. Deutsches Recht müsse aber “völkerrechtsfreundlich” ausgelegt werden – was dann immerhin zur Verfassungswidrigkeit der geltenden Regelungen führt.
Eine gute Nachricht ist es allerdings für uns alle nicht, wenn die wichtigste Verbriefung der Menschenrechte auf europäischer Ebene nun auch offiziell auf gleicher Ebene steht wie eine EU-Verordnung oder das Bundeskleingartengesetz. In schlechteren Zeiten kann das eine Einladung sein, diese Vorgaben als minderwertig und verzichtbar abzutun. Insoweit hätte die Europäische Menschenrechtskonvention schon ein paar wärmere Worte verdient.
In einem wichtigen Punkt bewegt das Karlsruher Urteil aber doch viel in Sachen Sicherungsverwahrung. Die Richter stellen unmissverständlich klar, dass sich die Vollzugspraxis ändern muss:
Das Leben in der Sicherungsverwahrung ist, um ihrem spezialpräventiven Charakter Rechnung zu tragen, den allgemeinen Lebensverhältnissen anzupassen, soweit Sicherheitsbelange nicht entgegenstehen. Dies erfordert zwar keine vollständige räumliche Loslösung vom Strafvollzug, aber eine davongetrennte Unterbringung in besonderen Gebäuden und Abteilungen, die dentherapeutischen Erfordernissen entsprechen, familiäre und soziale Außenkontakte ermöglichen und über ausreichende Personalkapazitäten verfügen. Ferner muss das gesetzliche Konzept der Sicherungsverwahrung Vorgaben zu Vollzugslockerungen und zur Entlassungsvorbereitung enthalten.
Außerdem, so das Bundesverfassungsgericht, müssen die Betroffenen vernünftige Möglichkeiten erhalten, ihre Rechte durchzusetzen. Das bislang häufig praktizierte Konzept “Wegsperren und Vergessen” hat nach diesen Vorgaben keine Zukunft mehr.
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 4. Mai 2011, 2 BvR 2365/09